Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
hatte sich Masaryk senior mit dem Thema Selbstmord beschäftigt und den Freitod als ein Symptom für gesellschaftlichen und geistigen Verlust beschrieben, als Einschätzung, dass das eigene Leben sinnlos sei, als negatives Urteil über die ganze Welt. Ein derartiges Urteil könnte kaum ferner vom Vermächtnis Jans sein. Würde ein Kind, das die Ansichten seines Vaters so genau kannte, sie in einem entscheidenden Moment seines Lebens bewusst völlig missachten?
Offiziell wurde der Fall Masaryk drei Mal wiedereröffnet: im Jahr 1968, als die kommunistische Kontrolle in der Ära namens Prager Frühling gelockert wurde; im Jahr 1993 nach der Rückkehr der Demokratie (über Václav Havel und die Samtene Revolution) und im Jahr 2003. Die ersten beiden Untersuchungen gelangten zu keinem endgültigen Urteil; in der dritten entschied der Staatsanwalt, dass Masaryk ermordet worden war, und zwar in erster Linie aufgrund eines Expertengutachtens zu der Position, in der man die Leiche aufgefunden hatte. Die Ermittler argumentierten, dass der
Außenminister mit Sicherheit hinuntergestoßen worden war; allerdings gelangten sie zu keiner Schlussfolgerung, wer denn gestoßen haben könnte.
B ei Tomáš G. Masaryks Begräbnis hatte Beneš die Hauptrede gehalten. Bei Jans weigerte er sich, eine Rede zu halten. Er wollte das Podium nicht mit Gottwald teilen und hatte erst in letzter Minute die Teilnahme zugesagt. In einen dicken Mantel gewickelt, saß er eingesunken neben Hana.
Nach der Zeremonie verließ Beneš sein Gut in Sezimovo Ústí nur noch ein Mal im April, zur Feier des 600. Jahrestags der Gründung der Karls-Universität. Dort bot er ein letztes Mal seine ganze Eloquenz auf zur Unterstützung der Freiheit von »Glauben, Wissenschaft, Denken und Berufung … die auf dem Respekt des Menschen für den Menschen beruhen«. 60 Erst im Juni erklärte er offiziell seinen Rücktritt. Er war beim Ausscheiden aus dem Amt vier Jahre jünger als T. G. Masaryk beim Amtsantritt. Sein Nachfolger wurde, wer hätte es gedacht, Gottwald, dem Beneš (aus einem Übermaß an Höflichkeit oder gar Angst) ein Glückwunschtelegramm schickte.
In den letzten Monaten war der Kreis aus Beratern und Freunden, der lange Zeit Beneš zur Seite gestanden hatte, geschrumpft. Neben den Ärzten blieb ihm die stets treue Hana, ein Sekretär und mutige Besucher, die sich auch von bis an die Zähne bewaffneten, kommunistischen Wachen nicht abschrecken ließen. Der erschöpfte Ex-Präsident spazierte, da er keine Freizeitbeschäftigung hatte, durch den Garten oder saß in Gedanken versunken an seinem Schreibtisch, ohne Unterlagen vor sich zu haben. Manchmal hörte er sich die Sendungen von Voice of America an, aber Hana bestand darauf, dass er das nur im ersten Stock tat, wo seine Sicherheitsleute nicht mithören konnten. Die Politik hatte sein Leben ausgefüllt, aber jetzt lief seine Zeit ab.
Allerdings legte Beneš immer noch Wert auf seinen Ruf. Aus dem Exil hatten Ripka und andere demokratische Minister rasch ihre Version der Ereignisse vom Februar erzählt und gaben dem Präsidenten die Schuld daran, dass er ihre Rücktritte akzeptiert
hatte, dass er Gottwald nicht verhaften ließ und die Kontrolle über das Militär und die Polizei verlor. Vor allem aber kritisierten sie ihn, weil er das Schicksal der Nation in die Hände der Sowjets gelegt hatte.
Am 19. August mobilisierte Beneš seine letzten Kraftreserven, um sich zu wehren, und sagte einem Interviewer:
Sie werfen mir vor, dass ich sie enttäuscht hätte. Aber ich werfe ihnen vor, dass sie mich enttäuscht hatten.… Als Gottwald den Altstädter Ring mit bewaffneten, blutrünstigen Milizen gefüllt hatte, erwartete ich eine Gegenkundgebung auf dem Wenzelsplatz. … Ich glaubte, dass die Demonstration unbewaffneter Studenten ein Signal zu einem allgemeinen Aufstand sei. Als jedoch kein Mensch etwas unternahm, konnte ich es Gottwalds Horden, die sehnsüchtig auf einen Kampf warteten, nicht gestatten, ein Blutbad unter der wehrlosen Prager Bevölkerung anzurichten. 61
Zum Zeitpunkt dieses Gesprächs hatte Beneš noch Hoffnung, aus der Isolation von Sezimovo Ústí auszubrechen; er hatte mit Hana über einen Umzug in die Hauptstadt gesprochen, in die Nähe des Außenministeriums, das er so viele Jahre geleitet hatte. Aber einen Tag nach dem Interview verschlechterte sich sein Gesundheitszustand rapide. Ein paar Tage lang brachte er keinen Ton hervor, erholte sich dann wieder eine Weile und
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