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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine K. Albright
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wurde wiederum allmählich schwächer. Er fiel in ein Koma und tat am 3. September 1948 seinen letzten Atemzug.
    Beneš besaß weder den intellektuellen Rang Tomáš G. Masaryks noch Jans unbeschwerte Art im Umgang mit Menschen. Er war kein Kriegsheld, geschweige denn ein begnadeter Politiker. Mein Vater zählte vor allem in seinem letzten Buch (über die Bedeutung der tschechoslowakischen Geschichte) zu jenen, die ihm zum Vorwurf machten, dass er nach München nicht gekämpft und dass er nicht geschickter gegen die Kommunisten agiert hatte. Aber in meinen Augen hängt viel davon ab, welche Messlatte man anlegt.
    Wer einen zweiten T. G. Masaryk erwartet hatte, war gewiss zu Recht enttäuscht; daran gemessen erfüllte er sicher nicht die Erwartungen. Er war zu sehr Anwalt und Analytiker, der sich bemühte, die Ereignisse zu taxieren, während ihm die Kühnheit und die Ausstrahlung fehlten, sie zu gestalten. Er agierte konsequent innerhalb der Grenzen der demokratischen und humanistischen Werte, die Masaryk verfochten hatte, wehrte sich aber selten gegen die Strömung der öffentlichen Meinung. Wenn die Mehrheit die Deutschen und Ungarn aus dem Land vertreiben wollte, dann stellte er sich an die Spitze des Unterfangens. Wenn die Menschen sich zum Sozialismus hingezogen fühlten, plädierte er für eine Verstaatlichung der Wirtschaft. Wenn es allgemeiner Konsens war, dass Stalin ihr Befreier war, sei’s drum. Die öffentliche Meinung war eine Tatsache, eine von vielen, die Beneš berücksichtigte, wenn er seinen nächsten Schritt berechnete. Und wenn er sich einmal der öffentlichen Meinung entgegenstellte, dann wollte er die brodelnden Leidenschaften abkühlen, wie etwa nach München, als dieser tschechische Sancho Pansa versuchte, sein Land vor einer selbstmörderischen Antwort nach dem Muster Don Quichottes zu bewahren.
    Tomáš G. Masaryk hingegen war einer der wenigen Führer, die lehrten, während sie führten. Schon als relativ junger Mann entlarvte er patriotische, aber gefälschte Dokumente, bekämpfte den Antisemitismus, sprach sich für Frauenrechte aus, förderte das Gesundheitswesen und hob die Verantwortung demokratischer Bürger hervor. Er appellierte instinktiv an den Anstand seiner Zuhörer, trachtete nicht danach zu beweisen, wie scharfsinnig er war, sondern wollte in denen, die sich die Mühe machten, ihm zuzuhören, die besten Eigenschaften fördern. Jahrzehnte später sollte Václav Havel genauso handeln, als er sich als Präsident bemühte, die tiefen Wunden zu heilen, die immer noch zwischen der tschechischen und deutschen Bevölkerung klafften, und die öffentliche Debatte auf die Ebene einer Diskussion über ethisches Verhalten und beiderseitige Verantwortung anzuheben. Unter dem Strich war Beneš keine so Ehrfurcht gebietende Persönlichkeit wie Tomáš G. Masaryk und ein nicht so überzeugender moralischer Schiedsrichter wie Havel. Was die Kritikpunkte angeht, so verurteilen diese ihn kaum.
    Gemessen an den anderen europäischen Staatschefs seiner Zeit, insbesondere mit Blick auf seine Gesundheitsprobleme gegen Ende seines Lebens, war Edvard Beneš ein Mann von bleibender Bedeutung. Zu Beginn seiner Laufbahn war er mit seinem diplomatischen Geschick maßgeblich an der Gründung der Tschechoslowakischen Republik beteiligt und trug erheblich zum Erfolg des alten Masaryk und zu dessen Ansehen bei. Als Präsident vollbrachte er ein wahres Wunder, indem er die Exilregierung zusammenhielt und ihre Ziele verwirklichte. Nach dem Krieg verschaffte er dem Land eine größere Chance als anderen Staaten der Region, die Freiheit zu erhalten. In den späteren Jahren konnte sich allenfalls Jan Masaryk hinsichtlich Popularität mit ihm messen, aber der (etwas) jüngere Mann wäre kein guter Präsident geworden. Er war ein launischer, sprunghafter, mitfühlender Spaßvogel, der niemals etwas so ernst nahm wie Beneš. Jan Masaryk ergänzte seinen Vorgesetzten; er hätte ihn nicht ersetzen können.
    Zwischen 1937 und 1948 hatte es das Duo Beneš und Masaryk erst mit Hitler und Ribbentrop, dann mit Stalin und Molotow zu tun. Aus dem Verlauf der Geschichte lernen wir, dass sich in beiden Fällen das mächtigere Duo durchgesetzt hatte – zumindest eine Zeitlang; doch das Urteil der Geschichte lässt darauf schließen, dass Beneš und Masaryk genau jene Führer waren, die wir eventuell gerne wiedererleben würden.
     
    A ls meine Eltern zu Masaryks Begräbnis nach Prag zurückkehrten, begrüßte Dáša sie dort.

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