Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
ein Blumenbeet, pflückten eine Rose oder Nelke und reichten sie ihrer Freundin. Mein Vater pflückte am liebsten die Blumen, die neben dem führenden Lebensmittelgroßhändler der Stadt blühten. Dort gelang es ihm einen Blick auf Anna Spiegelová zu erhaschen, jene junge Frau, die meine Mutter werden sollte. f Die Familie Spiegel leitete ein Unternehmen, das Mehl, Gerste, Gewürze, Weingummi und andere Lebensmittel an Geschäfte in der ganzen Region verkaufte. Annas Eltern Růžena und Alfred waren stolz auf ihre Produkte, insbesondere auf einen süßen, hausgemachten Likör namens Asko und frisch geröstete Kaffeebohnen, die laut Růžena die besten im ganzen Land waren. Später sagte mein Vater nach einer üppigen Mahlzeit, wir hätten nur deshalb so viel zu essen, weil meine Mutter aus einer Großhändlerfamilie stamme.
In einem Interview in den siebziger Jahren erinnerte sich meine Mutter: g
Ich hatte eine sehr schöne Kindheit. Im Frühling und Sommer gingen meine ältere Schwester und ich in den Wald und sammelten Pilze, Blaubeeren und Erdbeeren. An einem regnerischen Tag schauten wir einen Stummfilm an, wenn unser
Lehrer es erlaubte. Im Winter gingen wir Ski und Schlitten fahren oder machten, als wir älter waren, Skitouren durchs Land. Ich las gerne die Bücher, die meine Schwester gelesen hatte, legte aber keinen großen Wert darauf, die von ihr geerbten Kleider zu tragen. 24
Es war vielleicht nicht gerade Liebe auf den ersten Blick zwischen meinen Eltern, aber es fehlte nicht viel. Mein Vater, der nie sonderlich schüchtern gewesen war, ging einfach zu ihr und stellte sich vor: »Guten Tag, ich bin Josef Körbel, und du bist das geschwätzigste Mädchen in ganz Böhmen.« Prompt gab sie ihm eine Ohrfeige. Annas Kosename war Andula, aber seit ihrer Zeit am Gymnasium wurde sie »Mandula« gerufen, zusammengezogen aus »meine Andula«, eine zärtliche Form, die mein Vater erfunden hatte. Sie nannte ihn Jožka und sagte Ja, als er ihr 1928 einen Heiratsantrag machte. Er war damals Neunzehn, sie ein Jahr jünger. Ihre Eltern mahnten zur Geduld und schickten sie auf eine Schule in der Schweiz, wo sie Französisch, die Fertigkeiten einer Sekretärin und andere lebensnotwendige Dinge lernte.
Wenn die Eltern dachten, die Distanz werde der Romanze ein Ende setzen, so irrten sie sich. Meine Mutter erinnerte sich nach dem Tod meines Vaters: »Jožka war mit Sicherheit ein Mann, auf den sieben Jahre warten lohnte, bevor er war bereit zu heiraten.« Dann fügte sie hinzu – und strich es wieder durch: »Aber ich war nicht immer so passioniert. Paar Male ich dachte daran, es zu lassen.« (Selbst nach Jahrzehnten in Amerika hatte das Englisch meiner Mutter einen starken Akzent und folgte eigenen grammatischen Regeln.) Sie fuhr fort: »Oft habe ich mich gefragt, was ich bewunderte am meisten an seiner Persönlichkeit. Es war Ausdauer, die er wohl geerbt hatte von seinem Vater … [oder] ich liebte ihn wegen gutes Herz, Freundlichkeit, Selbstlosigkeit und Treue zu Familie, die er geerbt hatte von seine reizende Mutter?« 25
Mandula Spiegelová, später Körbelová, war hübsch und klein. Sie trug ihr braunes Haar im Stil der zwanziger Jahre unkonventionell kurz und hatte braun-grüne Augen und eingefallene Wangen. Mein Vater nannte sie in einem Brief »eine Person mit recht ungebärdigen
Neigungen«, womit er meinte, dass sie ihren eigenen Kopf hatte und sich nicht scheute, ihre Meinung zu sagen. Mein Vater wiederum hatte ein strenges, ernstes Gesicht und welliges Haar. Meine Mutter sagte, er sei mit den Jahren immer attraktiver geworden. Von Anfang an hatten sie den unbezähmbaren Wunsch gemeinsam, das Leben in seiner ganzen Schönheit auszukosten. Im Falle meines Vaters hieß das, die Ausbildung so schnell wie möglich abschließen, mit dem Ziel entweder Journalist oder nach dem Vorbild Masaryks und Beneš’ Diplomat zu werden. Um die erforderlichen Sprachkenntnisse zu erlernen, studierte er Deutsch und Französisch und verbrachte später ein Jahr in Paris. Im Alter von 23 Jahren wurde ihm von der Karls-Universität in Jura der Doktortitel verliehen. Unmittelbar vor seinem Wehrdienst arbeitete er kurze Zeit für eine Anwaltskanzlei und danach für eine andere. Im November 1934 verwirklichte er sein Ziel, ins tschechoslowakische Außenministerium aufgenommen zu werden. Es war an der Zeit, Mandula an ihr Versprechen zu erinnern.
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Hochzeit , Josef und Mandula Körbel
Die standesamtliche Trauung fand am
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