Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
gute Aussichten auf die Wahl zum Präsidenten Europas gehabt hätte. Mit seiner aufrechten Haltung, den strengen Gesichtszügen und dem Silberbart hätte er die Rolle mit Sicherheit gut ausgefüllt. Auch seine Tatkraft war erstaunlich: Er spielte Tennis, ritt aus und schwamm lange Strecken. Einmal lud der Präsident den draufgängerischen Schauspieler Douglas Fairbanks ein, ihm beim Tee im Garten seines Landsitzes Gesellschaft zu leisten. Masaryk forderte Fairbanks auf, seine sportlichen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Fairbanks sah sich kurz um, stand dann auf, nahm seine Tasse Tee und sprang über den Tisch, ohne einen Tropfen zu verschütten. »Sehr gut«, lobte Masaryk. »Das schaffe ich mit einer Tasse Tee nicht – aber was das Springen über den Tisch angeht, passen Sie mal auf.« Und mit seinen 77 Jahren hielt er Wort.
I n jener berauschenden Umgebung voller nationalem Optimismus und Stolz wuchsen meine Eltern auf.
Mein Vater Josef Körbel war das jüngste von drei Kindern. Er wurde am 20. September 1909 in der bäuerlichen Gemeinde Kyšperk (heute Letohrad) gut 140 Kilometer östlich von Prag geboren. Anfang 1997 reisten meine Schwester, mein Bruder und dessen Frau, nachdem wir von der jüdischen Abstammung unserer Familie erfahren hatten, in den Ort. Im August desselben Jahres folgte ich in Gesellschaft meiner Schwester und Töchter ihren Spuren. Man zeigte uns das gepflegte Reihenhaus – vom Bahnhof aus auf der anderen Seite einer Allee mit Ahornbäumen –, in dem mein Vater
aufgewachsen war. Der Bürgermeister und einige ältere Bewohner gaben uns bereitwillig über die Geschichte Auskunft. Das Kyšperk von 1909 war ein Dorf mit 2000 bis 3000 Einwohnern, überwiegend Tschechen, aber auch ein paar Deutschsprachigen darunter. Bislang hatten die Händler zwar in beiden Sprachen Werbung gemacht, aber um diese Zeit ging der Trend in Richtung Tschechisch. Mein Großvater Arnošt Körbel betrieb im Erdgeschoss seines Hauses einen kleinen Laden für Baumaterialien. Zu den Kunden seines Betriebs zählte die Streichholzfabrik am Ort, die Arnošt mitgegründet hatte und bei der viele Dorfbewohner arbeiteten. Wie alle Männer der Familie Körbel war er durchschnittlich groß, hatte ein imposantes rundes Gesicht und ein Kinngrübchen. Er hatte eine angenehme Art und wurde von der Gemeinde als rücksichtsvoll und liebenswürdig geschätzt. Im Jahr 1928 zogen er und seine Frau Olga in die Nähe von Prag, wo er Manager in einer Firma wurde, die einige der ambitioniertesten Bauprojekte der Stadt übernahm, auch die Jirásek-Brücke über die Moldau.
In Kyšperk, das keine Synagoge hatte, gingen die Körbels nicht zum Gottesdienst, sie beteiligten sich vielmehr an der Tradition zum Nikolaustag, an den Osterfeierlichkeiten und anderen Dorffesten. Eine derartige Flexibilität angesichts kultureller Grenzen war typisch für viele nichtreligiöse Juden. Für sie hatten diese Veranstaltungen (mit den Liedern, Festzügen, der Dekoration und dem besonderen Essen) eher eine soziale als religiöse Bedeutung. Ostern war ebenso sehr ein Fest des Frühlings wie Zeugnis der Auferstehung, und Weihnachtsbäume waren nicht nur für Christen. Als ich klein war, erzählte mein Vater mir oft die Geschichte, wie er und sein Bruder einmal am Ostermorgen miteinander gekämpft und dabei die Waschschüssel zerbrochen hatten. Die Botschaft der Episode war rein säkular: Wenn ich mich schlecht benahm, dann werde ich, genau wie sie damals, bestraft.
Kyšperk war zu klein für eine eigene weiterführende Schule. Deshalb ging mein Vater mit zwölf Jahren auf eine Schule im Nachbarort Kostelec nad Orlicí. Er war ein ausgezeichneter Schüler. Bei Theaterstücken an der Schule übernahm er stets wichtige Rollen, schimpfte über langweilige Lehrer und geriet einmal in große
Schwierigkeiten, als er einem Fremden mit dem Luftgewehr den Hut vom Kopf schoss. Laut eines Briefes, den er später an Klassenkameraden aus der Oberstufe schrieb, liebte er es, entlang der Pfade zu streunen, die sich am Fuß des Adlergebirges schlängelten. Außerdem verbrachte er viel Zeit auf dem Marktplatz, der breite Gehwege hatte, gesäumt von Rosen in allen Farben und dichten Büschen aus roten und weißen Nelken.
Zu den Lieblingsbeschäftigungen der Dorfjungen zählte es, den Polizisten genau zu beobachten, einen Mann, der so fett war, dass »seine Hosen wie ein Akkordeon an ihm hingen«. 23 Sobald er einmal wegsah, stürzten sich die Jungen vom Gehweg auf
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