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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine K. Albright
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20. April 1935 im alten Rathaus statt. Wie bei tschechischen Hochzeiten üblich wurde viel gesungen, zweifellos unter Anleitung des Bräutigams, der eine schöne Tenorstimme hatte und alle traditionellen Lieder kannte. Auf der Heiratsurkunde wurden meine Eltern als »bez vyznáni« bezeichnet: konfessionslos.
    Meine Mutter hatte, wie die meisten Frauen in jener Zeit, keinen Hochschulabschluss. Sie unterstützte jedoch voll und ganz die beruflichen Ambitionen meines Vaters und begleitete ihn mit Freuden vom Land in die kultivierte Hauptstadt Prag. Aus den Erinnerungen meines Vaters geht hervor, wie glücklich sie waren:
    Während andere europäische Länder politische und soziale Umwälzungen durchlebten, an finanzieller Instabilität litten und nacheinander dem Faschismus erlagen, war die Tschechoslowakei ein Hort des Friedens, der Demokratie und des Fortschritts. Wir Studenten genossen in vollen Zügen das Elixier der Freiheit. Begierig lasen wir nationale und ausländische Literatur und Zeitungen, besuchten jede Premiere im Nationaltheater und in der Tschechischen Oper und versäumten kein einziges Konzert der Prager Philharmoniker. 26
    In diesem ersten gemeinsamen Jahr, jung und kinderlos, lebten Josef und Mandula in einer Wohnung, die im Art-déco-Stil eingerichtet war, ganz in Schwarz und Weiß. Eifrig suchten sie ihren Platz in der Gesellschaft der Prager Kaffeehäuser, waren Stammkunden in den Restaurants und flanierten durch die Parks und über die Plätze. Frauen der Generation meiner Mutter gingen jede Woche mehrmals zum Markt in der Altstadt, auf dem eine unüberschaubare Zahl von Händlern Fleisch, Gemüse, Süßigkeiten, Backwaren und Obst feilboten. Große Schirme aus Segeltuch in verschiedenen Farben schützten vor Sonne und Regen. Die Einkäufe wurden in Zeitungspapier eingewickelt und in großen Netztaschen verstaut. Vor allem samstags hing über dem Markt eine Mischung verschiedener Wohlgerüche
aus Blumen, Obst und Geflügel. Straßenmusiker, fast ausnahmslos Männer, wetteiferten um die Aufmerksamkeit des Publikums und Trinkgelder. Bei besonderen Anlässen gesellten sich Tänzer in der tschechischen Volkstracht zu ihnen, mit wirbelndem Körper und wehenden Hemden, während ihre Füße auf das Pflaster stampften.
    Die Altstadt hatte immer schon bunte Märkte gekannt. Die Neustadt hingegen, die so genannt wurde, weil sie erst im 14. Jahrhundert besiedelt wurde, war eher eine grüne Wohngegend, mit reichlich Platz für Wäldchen und Parkanlagen. Die Geschichte von Prag ist in den Statuen, Synagogenmauern und Kirchtürmen aufgeschrieben, die von überall außer von den dunkelsten und engsten Gassen aus zu sehen sind, aber zur Zeit meiner Eltern war das Angebot an Freizeitbeschäftigungen ausgesprochen modern. Wie ich erfuhr, als ich für meine Doktorarbeit über die Rolle der Presse in der Tschechoslowakei recherchierte, hatte Prag damals 925 000 Einwohner und sage und schreibe zehn wichtige Tageszeitungen, meist die Organe politischer Parteien. Die Kioske verkauften darüber hinaus die führenden Zeitschriften aus ganz Europa (französische, englische und russische ebenso wie deutsche und tschechische), was den Kaffeehäusern das Aussehen eines Lesesaals verlieh. Die Politik war ein Gegenstand unablässiger Diskussionen. Mein Vater gehörte der Vereinigung Přítomnost (Gegenwart) an, einem Debattierklub über öffentliche Angelegenheiten mit Sitz in Prag, der ehrgeizige junge Akademiker anlockte, die in der Regierung, im Journalismus und in der Lehre arbeiteten. Über diesen Club lernte er den Vorsitzenden Prokop Drtina kennen, einen Mann, dessen Lebensweg im kommenden Jahrzehnt immer wieder den Weg unserer Familie kreuzen sollte.
    Die kulturelle und politische Dynamik der Hauptstadt war zum großen Teil der intellektuellen Energie eines Mannes aus einer früheren Ära zu verdanken, dessen bevorstehender Abschied nur wenige wahrhaben wollten. Seit der Gründung der Republik hatten sich die Einwohner an den Anblick T. G. Masaryks gewöhnt, wie er auf einem Hengst durch die Straßen reitet, ohne Abtrennung von der Menschenmenge. Im Winter 1936 begegnete mein Vater das einzige Mal
dem Gründungsvater, als das Außenministerium ihn aufforderte, eine Gruppe jugoslawischer Gelehrter zu begleiten, die um eine Audienz gebeten hatten. Für meinen Vater war es wie eine Begegnung mit George Washington: »Da stand er, Tomáš Garrigue Masaryk, 86 Jahre alt, hochgewachsen und schlank in einem dunklen Anzug, in

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