Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
sie zu den ungewöhnlichsten Stunden und in ungewohnten Stellungen auf Metallbänken, Feldbetten und Stühlen. Die Piloten trennten sich nie von ihren gelben Rettungswesten, die man wegen ihres Aussehens in aufgeblasenem Zustand nach dem Hollywoodstar Mae West nannte. Die Flugzeuge waren rund um die Uhr startbereit, und alle horchten mit einem Ohr, wann der Befehl zum Ausschwärmen kam.
Von den tschechoslowakíschen Piloten, die nicht der Staffel zugeteilt waren, war Sergeant Josef František der tüchtigste. Wie viele
Kollegen war auch František zur Zeit der NS-Invasion nach Polen geflüchtet und hatte dort in einem veralteten Pulawski-Jäger mitgekämpft. Nach der Niederlage Polens entkam er aus einem Internierungslager in Rumänien und schlug sich über Syrien nach Frankreich durch. Dort flog er ausgezeichnet für die französischen Luftstreitkräfte. Nach der Evakuierung von Dünkirchen wurde er der polnischen Staffel zugeteilt, die in England ausgebildet wurde. František, mit seinem knabenhaften Gesicht, den dichten schwarzen Augenbrauen und einem durchdringenden Blick, war für seinen Wagemut oder »Mumm«, wie man sagt, bekannt. In jenem September schoss er 17 deutsche Flugzeuge ab, mehr als irgendein Flieger der Alliierten. Am 8. Oktober verloren seine Kameraden die Maschine aus den Augen; später wurde sie in Surrey zerschmettert entdeckt. Františeks Leiche wurde nicht weit davon mit Genickbruch in einer Hecke gefunden.
Noch vor Ende September war Hitler zu dem Schluss gelangt, dass die Hauptziele der Bombardierung unerreichbar waren. Die RAF war keineswegs vernichtet worden; eine Invasion war undurchführbar; der Kampfwille des Gegners hatte allenfalls eher noch zugenommen. Dennoch gab er Befehl, die Bombenangriffe fortzusetzen. Im Oktober wurden mehr als 7000 Tonnen Sprengstoff über London, Liverpool, Manchester, Birmingham abgeworfen, auch andere Städte wurden getroffen. Im November wurden verheerende Angriffe gegen Coventry geflogen. Im Dezember war wiederum London an der Reihe.
Weihnachten im Jahr 1940 ist allen unvergesslich in Erinnerung geblieben, die diesen Feiertag in oder um die britische Hauptstadt verbrachten. Selbst als die nächtlichen Bombardements aufgehört hatten, verhinderten die übrigen Angriffe das Aufkommen jeder Festtagsstimmung. In unseren Augen drohte immer noch eine deutsche Invasion, auch wenn Hitler das Projekt längst abgehakt hatte. In unserem Haus in Notting Hill Gate gab es kein Licht, aber der Weihnachtsschmuck wurde dennoch aufgehängt; wir hatten einen Baum. Am Jahresende dachten meine Eltern mit Sicherheit an mich, aber auch an ihre lieben Angehörigen in Poděbrady und Prag.
Ungeachtet der Trauer und Sorgen gab es auch Grund für eine gewisse Befriedigung. Hitler war zu dem Zeitpunkt keineswegs auf der Verliererstraße, aber immerhin hatte er die Briten nicht genauso überrollt wie die Franzosen. Unter den Freunden meines Vaters machte damals ein Witz die Runde, in dem der »Führer« Mussolini anruft, um ihn für die jämmerliche Leistung seiner Truppen auf dem Schlachtfeld zu tadeln: »Sie haben versprochen, jetzt bereits in Athen zu stehen und einen Monat später in Kairo«, beschwert er sich. »Diese Termine sind längst verstrichen, und Sie sitzen immer noch in Rom.« Mussolini schweigt ein paar Sekunden, dann entgegnet er: »Mein Herr, ich habe Schwierigkeiten, Sie zu verstehen. Die Verbindung ist offenbar schlecht.« Mit erhobener Stimme wiederholt Hitler seine Vorwürfe. »Es tut mir leid, mein Herr, aber ich kann Sie immer noch nicht verstehen«, sagt der italienische Diktator. »Sie klingen so weit weg. Darf ich fragen, von wo aus Sie anrufen? Vielleicht aus London?«
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DAS BÜNDNIS WIRD GESCHMIEDET
Zu Beginn des Jahres 1941 flog Franklin Roosevelts Sondergesandter Harry Hopkins nach London, um sich mit Churchill zu beraten. Hopkins war ein Original und weniger ein Diplomat als vielmehr ein Allzweckmittel, der dem Präsidenten als Augen, Ohren und (wegen der eingeschränkten Mobilität) häufig als Beine diente. Im Mai des vorigen Jahres war Hopkins in das Weiße Haus eingezogen, wo er bis zu Roosevelts Tod leben sollte. Bei Hopkins konnte man sich, mehr als bei jedem anderen US-Regierungsvertreter, darauf verlassen, dass er für den Oberbefehlshaber sprach.
Bei diesem Besuch erörterte Hopkins stundenlang mit dem Premier den dringenden Bedarf Großbritanniens an Schiffen und Flugzeugen. Die Gespräche verliefen gut. Im November hatte
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