Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
ernst genommen wurde, musste er zuerst ebenbürtig behandelt werden, vor allem weil sein oberstes Ziel, nämlich die Wiederherstellung unseres Landes in den Vorkriegsgrenzen, bei keinem anderen internationalen Staatschef Priorität hatte.
Neben dem Streben nach voller Anerkennung hatte Beneš drei Hauptziele: die Meinungsverschiedenheiten zwischen Tschechen
und Slowaken beilegen, ohne der Sache selbst zu schaden; den Kontakt zu den Anhängern im eigenen Land halten, und das Engagement seines Landes für einen Sieg der Alliierten unter Beweis stellen. Dabei kam der Propaganda eine Schlüsselrolle zu. Im Januar 1941 nahm ein tschechoslowakisches Institut in London die Arbeit auf, mit dem Ziel, die Kultur des Landes zu verbreiten und den Engländern etwas über die »Menschen, über die wir nichts wissen«, beizubringen. Um ihre Begeisterung zu wecken, druckte die Regierung kriegerische Plakate (»Tschechoslowaken! Die Stunde eurer Befreiung rückt näher!«) und verteilte »V for Victory«- Anstecker (»Eine freie Tschechoslowakei in einem freien Europa; die Tschechoslowakei kämpft für den Sieg!«).
Da das Hauptquartier der Exilregierung in der Luftschlacht beschädigt worden war, wurden neue und größere Büroräume am Grosvenor Place Nr. 8, im Zentrum von London bezogen, während Beneš seinen Wohnsitz nach Aston Abbotts verlegte, ein Dorf mit 400 Einwohnern am Rand von Buckinghamshire. Dort lebte er mit Hana in einem zweistöckigen, von Efeu bewachsenen Haus, samt einem Krocketspiel auf dem Rasen, einem Arbeitszimmer, in dem sich Bücher und Landkarten türmten. Auf seinem Schreibtisch lag eine gerahmte Kopie von Rudyard Kiplings Gedicht »Wenn«, einer Ode an den Mut in kritischen Situationen. Sein 57. Geburtstag rückte näher, und man sah Beneš sein Alter an. Das Haar war silbergrau geworden, und sein gewohnt ernstes Gesicht wurde von immer tieferen Falten unter den Augen geprägt. Wie immer arbeitete er ununterbrochen, kümmerte sich von Aston Abbotts aus an den Wochenenden, an Montagen und am Abend um die Geschäfte. An den anderen Tagen fuhr er in einem Daimler mit Chauffeur 90 Minuten nach London hinein. Wie viele Europäer kommunizierte er mit den Händen ebenso eifrig wie mit dem Mund. Wenn er nicht vom Blatt las, benutzte er seine Brille als Hilfsmittel, schwenkte sie durch die Luft, hielt sie nachdenklich und erhob sie dann wiederum, um einem Punkt Nachdruck zu verleihen.
Frau Benešová hielt sich in der Regel im Hintergrund, aber auch sie steckte voller Leidenschaft. Im Ersten Weltkrieg hatte ihr Ehemann die Scheidung angeboten, um sie vor politischer Verfolgung zu
schützen. Sie hatte abgelehnt und den größten Teil ihres persönlichen Besitzes der Kampagne für die Unabhängigkeit gespendet. Da es ihr nicht gelang, Österreich-Ungarn zu verlassen, wurde Hana Benešová wegen revolutionärer Tätigkeit verhaftet und kam für elf Monate ins Gefängnis, in denen sie einem strengen Verhör unterzogen wurde. Hana Benešová war stämmig gebaut und hatte ein freundliches, rundes Gesicht und hochgestecktes braunes Haar; wie die meisten Leute damals, trug sie Hüte sowie praktische Mäntel und häufig eine Perlenkette und Ohrringe. Sie war die Ehrenvorsitzende des Tschechoslowakischen Roten Kreuzes, gründete ein Heim für Exilkinder in London und half, verarmten Soldaten das Nötigste zum Leben zu verschaffen. In der Öffentlichkeit sprach sie zwar nur selten, aber sie setzte sich gelegentlich in der BBC vors Mikrofon und plädierte für Demokratie, Patriotismus und Dienst an der Gemeinschaft. Wie die meisten in der Exilregierung zählte sie die Tage bis zu ihrer Rückkehr.
Winston Churchills Landsitz Chequers lag nur wenige Meilen von Aston Abbotts entfernt. Am 26. Februar 1941 war Dr. Beneš, der damals und bei späteren Begegnungen dessen Gesellschaft stets genoss, zum Mittagessen Gast des Premiers. Beneš beschrieb Churchill gegenüber einem Freund als »endlich einen Engländer, der die Grundlagen dieses Krieges begreift und was er für ganz Europa bedeutet«. 72 Für Beneš war der Zweite Weltkrieg zum Teil eine Fortsetzung des Ersten: ein Konflikt zwischen einem militaristischen Deutschland und dem Westen, allerdings war Russland inzwischen besser gerüstet, den Ausschlag zu geben. Er war fest überzeugt, dass die Wehrmacht, trotz des Hitler-Stalin-Paktes, in Kürze in Russland einmarschieren würde und dass Moskau und London am Ende auf derselben Seite kämpfen würden. Diese Anschauung
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