Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
ließ. Vielleicht war es ja auch gar nicht Alices Haus, sondern das irgendeiner anderen Frau mit langem grauem Zopf.
Es gab nur einen Weg, das herauszufinden.
Sie stand auf und ging zur Garderobe, um ihren Mantel zu holen.
Ruthie
Es war ein ereignisloser Tag, und das machte Ruthie ganz nervös – alles war wie immer, bis auf die rätselhafte Abwesenheit ihrer Mutter, die wie ein Schleier über allem lag und dem Tag etwas Verschwommenes, Unwirkliches, einen süßlich-bitteren Beigeschmack verlieh.
Es war Samstag, und Ruthie überlegte, ob sie anstelle ihrer Mutter auf den Markt gehen und Eier verkaufen sollte. Doch dann entschied sie sich dagegen. Für die hundert Dollar, die sie vielleicht einnehmen würde, lohnte es sich nicht, sich mit all den Fragen herumzuschlagen, die man ihr garantiert stellen würde. Buzz arbeitete bei seinem Onkel und hatte erst später frei.
Die Mädchen hockten den Vormittag über zu Hause, schauten nervös aus dem Fenster, und Ruthie schielte andauernd zum Telefon. Sie spülte Geschirr. Wischte den Boden. Fütterte die Hühner und sammelte Eier ein. Sie sorgte dafür, dass das Feuer im Holzofen nicht ausging. Sie machte alles, was ihre Mom gemacht hätte, und zwar so Mom-mäßig, wie sie nur konnte. Fawn lief ihr von einem Zimmer ins nächste hinterher. Sie wich ihrer großen Schwester keinen Moment lang von der Seite. Sie wartete sogar vor der Badezimmertür, wenn Ruthie zur Toilette musste.
»Ich geh nirgendwohin, okay?«, versicherte Ruthie.
Fawn nickte, klebte aber weiterhin wie ein Schatten an ihr.
Mindestens ein Dutzend Mal beschloss Ruthie, die Polizei anzurufen, aber jedes Mal ließ sie es im letzten Moment bleiben. Was, wenn ihre Mutter und ihr Vater wirklich in irgendeiner Weise mit dem Verschwinden der O’Rourkes zu tun hatten? Was, wenn die Verrückte in Connecticut der Polizei bereits gesagt hatte, dass Ruthie bei ihr gewesen war? Und dann würde Ruthie ihnen auch von dem Revolver erzählen müssen, oder nicht? Für den hatten ihre Eltern doch mit Sicherheit keinen Waffenschein. Und Fawn – bestimmt würden sie ihr Fawn wegnehmen. Auf keinen Fall würden sie sie in einem Haus wohnen lassen, in dem es illegale Waffen gab, noch dazu in Ruthies Obhut. Außerdem klammerte sich Ruthie nach wie vor an die Hoffnung, dass ihre Mutter irgendwann von selbst wieder auftauchen würde und eine völlig einleuchtende Erklärung für ihr Verschwinden hätte. »Tut mir leid, dass ihr euch meinetwegen Sorgen gemacht habt, aber …« Und, Gott, sie würde ausrasten, wenn sie erfuhr, dass Ruthie schwach geworden war und die Polizei eingeschaltet hatte.
Morgen früh , nahm Ruthie sich vor. Wenn ihre Mutter dann noch nicht zurück war, würde sie auf jeden Fall die Polizei alarmieren. Gleich als Erstes.
Ruthie kochte einen Eintopf mit Rindfleisch, das sie aus der Gefriertruhe im Keller geholt hatte – zu ihrer Erleichterung hatte sie festgestellt, dass das Fleisch in der Truhe noch mehrere Monate reichen würde. Außerdem lagerten im Wurzelkeller noch mehr als genug Kartoffeln, Karotten und Zwiebeln.
Aber sie konnten nicht monatelang so weitermachen, oder? Im Laufe des Tages begann Ruthie sich ernsthaft Gedanken darüber zu machen, was aus ihnen werden würde, sollte ihre Mutter nie wieder auftauchen. In der Kaffeebüchse im Keller waren mindestens zweihundert Dollar – nicht viel, aber sie kamen auch mit wenig aus. Es gab keine Hypothek auf das Haus, sie mussten also lediglich ausreichend Geld für Lebensmittel, Nebenkosten, Benzin und Hühnerfutter aufbringen. Ruthie war sicher, dass sie mit dem Eierverkauf auch allein zurechtkommen würde. Sie hatte es immer gehasst, in dem riesigen Gemüsegarten mithelfen zu müssen, allerdings würden sie dort viele Lebensmittel selbst anbauen können. Sie und Fawn wussten, wie man im Frühling die Saat vorzog, wie man ein Rankgitter für Erbsen baute, wann man Knoblauch ernten musste. Ihre Mutter hatte ihnen beigebracht, wie man Brot backte und Tomaten oder Bohnen einkochte. Ruthie konnte sich einen Nebenjob in der Stadt besorgen. Irgendwie würden sie es schon schaffen. Wenn es hart auf hart kam, würden sie einen Weg finden.
Aber so weit würde es nicht kommen. Bestimmt war der ganze Spuk bald vorbei.
Der Eintopf köchelte auf der hinteren Herdplatte vor sich hin und erfüllte das Haus mit einem köstlichen, anheimelnden Duft, bei dem Ruthie ihre Mom gleich noch mehr vermisste.
Gegen Nachmittag kam bei Fawn das Fieber zurück. Ruthie
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