Winterfest
stellte sich als Polizeiermittler aus Norwegen vor. »Mein Beileid.«
»Danke«, flüsterte die Frau.
»Anna hat uns zugehört«, erklärte Teodor Milosz. »Aber sie wollte Sie gern kennenlernen.«
»Ich will nicht, dass Sie Darius als Dieb betrachten«, sagte sie. »Er hat Norwegen geliebt. Er erzählte uns, was er alles erlebt hat. Er hatte Berge gesehen und Wasserfälle neben den Straßen, und er berichtete von all den Häusern, die so praktisch und schön zugleich waren. Die Norweger sind gut darin, schöne Sachen zu machen, erzählte er mir.«
»Sie sprechen gut Englisch«, bemerkte Wisting.
»Anna studiert an der Universität«, erklärte Milosz.
Sie setzten sich wieder. Wisting hörte der Frau zu, die viel zu erzählen hatte.
»Wir haben dieselbe Sonne und denselben Mond, in Norwegen wie in Litauen«, sagte sie. »Wir leben auf derselben Erde, aber unsere Welt ist zweigeteilt. Wir sind arm. Ihr seid reich.«
Wisting konnte nicht anders als nicken und zustimmen.
»Darius hat nicht davon geträumt, reich zu sein«, fuhr die Frau fort. »Aber er träumte von einem guten Leben. Für sich, für mich und für die Kinder, die wir uns wünschten. Wenn Leute aus einem armen Land wie unserem zu euch kommen, um zu arbeiten oder zu stehlen, dann nicht, um reich zu werden, sondern um genug Geld zusammenzubekommen, um auf eigenen Füßen stehen zu können. Das ist falsch, natürlich, aber arme Menschen müssen immer an sich selbst denken. Früher einmal wart auch ihr Norweger arm. Ich glaube, ihr habt das vergessen, aber ihr seid trotzdem so stolz auf eure Wikinger, dass ihr Museen für sie baut. Die Wikinger haben geplündert, vergewaltigt und getötet, aber heute sehen alle sie als Helden.«
»Warum gerade Norwegen?«, fragte Wisting und sah Teodor Milosz an. »Warum sind Sie nicht nach Deutschland gefahren oder in Schweden geblieben?«
»Wenn man etwas Falsches tut, ist es wichtig, dass das, was man tut, so wenig falsch wie möglich ist«, sagte der Litauer. »Es ist besser, Norwegen zu bestehlen, das ein reiches Land ist, als ein armes Land, wo die Leute nicht viel besitzen. Norwegen merkt nicht viel davon, wenn man hunderttausend Kronen stiehlt.«
»Was würden Sie tun, wenn jemand Sie bestehlen würde?«, fragte Wisting.
»Ich würde wütend sein«, lautete die Antwort. »Aber dann würde ich denken, dass diejenigen, die das getan haben, verzweifelt waren und das Geld brauchten. Leute, die bestohlen werden, dürfen das nicht persönlich nehmen. Es ist nur Zufall, dass es sie trifft.«
Wisting ließ den Blick zwischen den drei blassen Männern wandern. In den jährlichen Berichten über Trends und Tendenzen in der Verbrechensentwicklung wurden sie als zynische Mitglieder organisierter Einbrecherbanden aus dem Osten beschrieben. Sicherlich gabe es solche Menschen auch, aber ausgehend von dem, was die Männer erzählten und was Wisting mit eigenen Augen in diesem Land gesehen hatte, war das, wofür sie standen, eine Form von Kriminalität, die der Not entsprang, nicht der Unmoral. Es war leicht zu sehen, woher die Kriminalität kam. Trotzdem war das keine hinreichende Erklärung. Seit Wisting bei der Polizei angefangen hatte, war die norwegische Wirtschaft kräftig gewachsen. Mit der Entwicklung des Wohlfahrtsstaats hatte die Zahl der Armen in Norwegen abgenommen, aber gleichzeitig war die Kriminalitätsrate enorm gestiegen. Die Ursache von Kriminalität war wesentlich komplexer und bestand aus mehr Elementen als Armut und Not. Trotzdem stand fest, dass das Kriminalitätsbild in Norwegen sehr viel anders aussehen würde, wenn die wirtschaftliche Lage in Osteuropa besser wäre.
»Wann kommt er nach Hause?«, fragte die schmächtige junge Frau und riss Wisting aus seinen Gedanken.
»Irgendwann nächste Woche«, antwortete Wisting.
Wieder kehrte Stille ein.
Teodor Milosz räusperte sich. »Wir fahren Sie zurück«, sagte er und gab ein paar Anweisungen auf Litauisch.
Algirdas holte Wistings Handy, Pass und Brieftasche und händigte sie ihm aus.
»Ich kann ein Taxi nehmen«, sagte Wisting und erhob sich.
»Hier draußen gibt es keine Taxis. Wir bringen Sie zum Hotel.«
»Warten Sie«, bat die Frau, die Darius Platers Freundin gewesen war.
Wisting begegnete ihrem Blick und erwartete eine schwierige Frage.
»Werden Sie ihn kriegen?«, wollte sie wissen. »Werden Sie den Mörder von Darius finden?«
Wisting antwortete mit einem Nicken. »Das ist mein Job.«
58
Der Frühstücksraum roch nach frisch
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