Winterfest
toter Vogel. Sie schob ihn vorsichtig mit dem Fuß beiseite. Die Flügel waren gespreizt. Aus dem spitzen gelben Schnabel war Schleim auf das Holz getropft und hatte einen kleinen Fleck verursacht. Sie ließ den Vogel liegen und entfernte den Riegel vor der Tür.
Der Schlüssel ließ sich nur schwer drehen. Es war lange her, seit jemand hier gewesen war, und das Schloss zeigte sich wenig kooperationswillig. Schließlich bekam sie die Tür auf und stand im halbdunklen Flur. Die Luft war feucht und muffig und es roch abstoßend nach Schimmel.
Sie ließ die Tür offen stehen und fand den Schalter für die Deckenlampe. Die Lampenschale war voller toter Fliegen und Motten und tauchte den Raum in ein trübes Schummerlicht.
Sie ging nach draußen und entfernte die Fensterläden, bevor sie die Hütte in Augenschein nahm.
Die Möbel in der geräumigen Stube waren mit weißen Laken verhüllt. Eine verblichene alte Seekarte vom Oslofjord hing neben drei gerahmten Schwarz-Weiß-Fotos an der einen Wand. An der gegenüberliegenden Seite nahm ein überfülltes Bücherregal die Wand bis unter die Decke ein. In den Regalfächern standen die Bücher kreuz und quer übereinander, ohne ersichtliches System. Auf dem Holzfußboden lagen handgewebte Läufer.
Ein offener Kamin trennte das Zimmer von der angrenzenden Küche. Abgesehen von kalter grauer Asche und ein paar Überresten von angebrannten Holzscheiten wirkte alles sauber und ordentlich.
Die Hütte hatte noch vier weitere Räume: ein Bad, eine Kammer und zwei Schlafzimmer. Eins davon war fast so groß wie das Kaminzimmer. Außer einem breiten Bett standen eine Kommode und ein Ohrensessel mit hoher Lehne darin. Zwei große Fenster gingen zur Meerseite hinaus. Der Nebel war dichter geworden und der Mann auf der Steinmole nicht zu sehen.
Sie ging zurück in die Küche und drehte den Wasserhahn auf. Kaltes Wasser strömte in das tiefe Emaillebecken. Sie fand den Warmwasserboiler unter dem Spültisch und stellte ihn an. Es würde ein paar Stunden dauern, bis sie heißes Wasser zum Putzen hatte, es sei denn, sie würde es auf dem Herd erhitzen.
Der Kühlschrank war von der Wand gerückt worden und die Kühlschranktür stand einen Spalt offen. Sie stöpselte den Stecker ein, schob den Kühlschrank an seinen Platz und sortierte die Lebensmittel ein, die sie gekauft hatte.
Sie zog die Laken von den Möbeln in der Stube und bekam ein altes Kofferradio in Gang. Danach stand sie am Fenster, starrte hinaus und dachte an Tommy. An seinen warmen Blick, die sehnigen Unterarme, die Intensität seiner Umarmungen.
Noch nie zuvor hatte sie sich einem Menschen so nahe gefühlt. Es war eine Nähe, von der sie abhängig geworden war. Vielleicht war sie umso abhängiger von der körperlichen Nähe geworden, je mehr der mentale Abstand wuchs. Vor ein paar Wochen hatte sie es schlagartig erkannt: Sie konnte diese Beziehung nicht weiterführen. Und obwohl die Erkenntnis schmerzhaft gewesen war, hatte sie auch Erleichterung empfunden. Sie musste sich ihr Leben zurückholen, musste wieder auf eigenen Füßen stehen. Insgeheim hatte sie seit Langem gewusst, dass das Leben mit Tommy in einer Katastrophe und mit Kummer enden würde, das hatte jeder sehen können, der Augen im Kopf hatte. Die dunklen Seiten an ihm, die sie zuerst angezogen hatten, waren jetzt die, die sie von ihm forttrieben.
Sie schüttelte sich, als wäre ihr kalt, und dachte, dass es wohl oft so war. Die Eigenschaften, über die der Rausch der Verliebtheit einen versöhnlichen Schleier geworfen hatte, wurden plötzlich unerträglich, wenn die erste, heftigste Leidenschaft abgekühlt war. Und das war jetzt der Fall. Tommys verborgenes Leben, seine nächtlichen Ausflüge und geflüsterten Telefonate im Bad verursachten ihr nur Unruhe und Frust.
Draußen begann sich das trübe Grau zu lichten. An den Bäumen konnte sie sehen, dass Wind aufgekommen war, der den Nebel vertrieb.
Sie setzte sich und streckte die Hand nach einem Buch aus, das aus dem Regal herausragte. Es war einer von Agatha Christies Kriminalromanen. Ein Schokoladenpapier, das als Lesezeichen diente, schaute zwischen den letzten Seiten hervor. Sie öffnete das Buch, las ein paar Zeilen und schlug es wieder zu.
Ihr Kopf war erfüllt von chaotischen Gedanken, von Zweifeln, von Fragen; gute und schlechte Erinnerungen vermischten sich. Die Idee, einige Tage in der Hütte zu verbringen, war ein Versuch, vor den Gedanken zu fliehen, aber es gehörte wohl mehr dazu als ein
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