Winterfest
arbeitslos und habe es satt, ohne Job zu sein. Ich hatte bei der Arbeitsvermittlung eine freie Stelle als Hilfskraft gemeldet, aber es ist ja ein etwas spezieller Job und niemand hatte sich dafür interessiert. Mir gefiel seine Initiative und ich wollte ihm eine Chance geben.«
»Hatte er Referenzen?«
»Ich habe mit einem Kurierdienst gesprochen, bei dem er früher gearbeitet hat. Sie stellten ihm ein gutes Zeugnis aus, er sei fleißig und zuverlässig. Genau das, was ich brauchte. Einen Helfer, der Transporte vom Krankenhaus oder Altersheim übernehmen oder mich nachts begleiten konnte. Er war ruhig und höflich, hatte aber wenig Kontakt mit den Kunden. Um die kümmere ich mich selbst. Außerdem kannte ich ja seine Familie. Ich habe seine Großeltern beerdigt und kenne seine Mutter gut. Sie ist in der Kirchengemeinde aktiv.«
Wisting ließ ihn nicht aus den Augen. Der Mann wich seinem Blick aus. Wisting schwieg, er ahnte, dass da noch mehr war, und wartete darauf, dass er weitersprach.
»Es gibt da ein paar Details, die Sie wissen sollten«, sagte Ingvar Arnesen, nachdem die Stille bedrückend geworden war. »Ottar Mold hat vermutlich große finanzielle Probleme. Finanzamt und Gerichtsvollzieher haben mir mitgeteilt, dass sein Gehaltskonto gepfändet ist.«
Wisting überlegte, ob er Arnesen bitten sollte, sich den Stuhl neben der Tür zu nehmen und sich zu setzen, aber er ließ es bleiben.
»Und dann ist da noch etwas«, fuhr der Bestatter fort. »Es sind Dinge aus dem Besitz der Toten verschwunden.«
»Wie meinen Sie das?«
»Am letzten Wochenende hat Ottar einen Mann aus dem Pflegeheim in Stavern abgeholt, der relativ überraschend gestorben war. Hinterher vermisste der Sohn mehrere tausend Kronen, die der Vater angeblich in einem Portemonnaie in der Nachttischschublade aufbewahrt hat. Es könnte sein, dass jemand vom Pflegepersonal oder einer der Angehörigen das Geld an sich genommen hat, aber … ich weiß nicht.«
»Sie glauben, es war Mold?«
»Ich habe keinen Grund, das zu unterstellen, aber es sind auch andere Dinge verschwunden. Ich erfahre ja so einiges in den Gesprächen, die ich mit den Hinterbliebenen führe. Die Rede war von Schmuck, den sie nicht finden konnten, und von Bargeld, das verschwunden ist. Ich habe nicht angenommen, dass er etwas damit zu tun hat, aber jetzt, wo alles zusammenkommt, macht man sich doch so seine Gedanken. Wie ich Ihnen bereits am Telefon sagte, es gab zu viel Ärger mit Ottar, er hat zu oft gefehlt, ohne vorher Bescheid zu sagen. Ich werde ihn nicht behalten, wenn die Probezeit um ist.«
»Weiß Ottar Mold das?«
»Ich habe ihm gesagt, dass wir nicht genug Arbeit für eine Hilfskraft haben, um ihn fest einstellen zu können.«
»Wann haben Sie ihm das gesagt?«
»Gestern.«
Wisting lehnte sich zurück. Vor ihm zeichnete sich das Bild eines Menschen ab, der sich in die Enge getrieben fühlte und dem zuzutrauen war, dass er irrational und aus Verzweiflung handelte. Er verstand nur noch nicht, was es Ottar Mold bringen sollte, die Leiche in einem Mordfall zu unterschlagen.
Zwanzig Minuten später schlossen William Wisting und Nils Hammer mit dem Schlüssel des Hausmeisters die Tür zu Ottar Molds Souterrainwohnung auf.
Eine Glastür trennte den Flur von einem Raum, der Stube und Küche zugleich war. Alle Vorhänge waren zugezogen und die Luft war verbraucht und feuchtkalt. Der Küchenbereich bestand aus Kühlschrank, Waschmaschine und einer einzelnen Kochplatte neben dem Spülbecken. Von der Wohnküche führte ein kleiner Gang zum Schlafzimmer, dessen Tür offen stand. Eine Bettdecke ohne Bezug lag zusammengefaltet auf dem Bett, und es sah so aus, als ob Ottar Mold seine Nächte unter einer Wolldecke auf dem Sofa verbrachte.
Der Wohnung war anzumerken, dass Mold erst seit wenigen Monaten hier lebte. Die Wände waren kahl und seine Sachen immer noch in Pappkartons verpackt.
Wisting bemerkte auf dem Couchtisch ein leeres Glas und einen Teller mit einer angebissenen Scheibe Brot. Der Wurstbelag war angetrocknet und rollte sich an den Rändern. Daneben lag ein Stapel Umschläge in verschiedenen Größen. Mahnungen und Inkassomitteilungen zusammen mit diversen ungeöffneten Briefen.
Die karg möblierte Wohnung verriet ihnen nicht viel. Sie zeugte vom ereignislosen Dasein eines einsamen Mannes, aber das sagte noch nichts darüber aus, was passiert sein mochte. Trotzdem haftete der engen Wohnung etwas Beunruhigendes an. Wisting bekam es nicht richtig zu fassen,
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