Winterfest
alter Kriminalroman, um sie zu vertreiben.
Die Einsamkeit und Stille um sie herum machte es nicht gerade leichter. Vielleicht war dies etwas, wovor sie nicht fliehen konnte. Vielleicht war dies etwas, dem sie sich stellen musste.
Sie ging zu ihrer Tasche und holte den Laptop heraus. Dann setzte sie sich und schaltete ihn ein, um ihre zerrissenen Gedanken und Gefühle in Worte zu fassen.
Sie gefiel sich jetzt besser als damals, bevor sie Tommy kennengelernt hatte. Früher war sie unreif und unsicher gewesen. Unsicher war sie immer noch, aber auf eine andere Art. Sie wusste jetzt besser, was sie wollte und wer sie war, und sie wusste besser, wie das Leben sein konnte. Sie hatte erfahren, was Leidenschaft mit Menschen machte, wie belebend und zerstörerisch zugleich sie sein konnte. Sie war reifer geworden und es war Zeit, weiterzugehen. Sie war siebenundzwanzig. Früher hatte sie gedacht, mit siebenundzwanzig wäre man erwachsen. Bereit, sich zur Ruhe zu setzen. Wie man sich doch irren konnte. Es war Zeit, das Leben anzupacken. Zeit zu leben. Nicht in Gedanken, nicht in der Vergangenheit oder in der Zukunft, sondern hier und jetzt.
Deshalb konnte sie nicht zurückblicken, sondern musste ein neues Kapitel aufschlagen.
Sie sah wieder zu dem Buch von Agatha Christie hinüber, holte es sich und blätterte darin. Alles war so einfach, so überschaubar. Eine Gesellschaft oder eine Familie wird von einem Mord in den Grundfesten erschüttert. Miss Marple kommt ins Bild, sammelt Informationen, analysiert die Situation, enttarnt den Mörder – und die Harmonie wird wiederhergestellt. Ein sorgfältig inszeniertes Universum, stringent und durchsichtig. Und es war einfach, sich darin zurechtzufinden. Sie wünschte, sie könnte die Regie über ihr Leben auf die gleiche Weise übernehmen und es so hinbekommen, dass alles eine einfache, logische und glückliche Lösung fand.
Sie hob den Kopf und blickte wieder aus dem Fenster. Das Meer verschwand langsam in der blaugrauen Nachmittagsdämmerung. So saß sie eine Weile da und spielte mit einem Gedanken. Dann löschte sie alles, was sie über sich geschrieben hatte, und begann mit einem neuen Satz: Die Leiche wurde am 8. Juli herausgezogen, am Nachmittag kurz nach 3.00 Uhr.
Sie nickte zufrieden. Das war ein guter Anfang für einen Kriminalroman.
17
Benjamin Fjeld hatte Bilder von dem ausgebrannten Leichenwagen geschickt. Ein Foto vom Laderaum füllte den Bildschirm in Wistings Büro. Die Details, die es enthüllte, gaben wenig Anlass zu Optimismus.
Von den Kleidern des Toten war nichts mehr übrig. Die verbrannte Haut warf große, aufgeplatzte Blasen.
Er öffnete einen weiteren Dateianhang und erhielt eine Nahaufnahme des Kopfes. Einige wenige Haarsträhnen klebten noch am Schädel. Nase und Lippen hatte das Feuer weggefressen und die Augen waren zu schwarzen Löchern geworden.
Für die Rechtsmediziner war die verkohlte Leiche wenig ergiebig. Die Zahnfüllungen konnten ihnen vielleicht helfen, die Identität festzustellen, aber an kriminaltechnischen Spuren war nicht viel zu holen.
Er ärgerte sich, dass sie dem Toten draußen am Fundort nicht die Sturmhaube vom Gesicht gezogen und ein paar Fotos gemacht hatten, die zeigten, wer er war.
Nils Hammer erschien in der Tür. Er rieb sich die Augen mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand. »Das ist aus unserem Job geworden«, sagte er und nickte zum Monitor. »Dasitzen und auf einen Computerbildschirm starren.«
Wistig nahm die Brille ab und fasste sich ans Kinn, das wieder schmerzte. »Wie kommst du mit den Mautstationen voran?«, fragte er. »Hast du die Dateien erhalten?«
»Ja, und so langsam bekomme ich eine Übersicht, aber es dauert, die Daten zu sortieren.« Hammer setzte sich. »Wir reden von mehr Verkehr, als ich gedacht hatte. Wenn wir bei dem zwanzigminütigen Zeitfenster bleiben, waren es dreihundertachtundsiebzig Autos, die beide Mautstationen Richtung Süden passiert haben. Davon sind tatsächlich zweihundertsechzehn am selben Abend wieder zurückgefahren. Das Problem ist, dass die Daten, die uns die Betreibergesellschaft geschickt hat, nur die Autonummern enthalten. Ich muss jedes Kennzeichen manuell im Kraftfahrzeugregister nachschlagen, um Autotyp und Halter zu ermitteln. Erst wenn das getan ist, wird es interessant. Ich musste jetzt einfach mal eine Pause machen. Zu viele Nummern auf einmal. Bin schon ganz wirr im Kopf.«
Ehe Wisting darauf antworten konnte, kam Christine Thiis herein. »Jetzt ist es
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