Winterfest
und zog die nassen Sachen aus. Gänsehaut überzog ihre Brüste und die nackten Oberarme. Sie hob die Reisetasche aufs Bett und suchte nach Kleidung zum Wechseln. Sie fand einen Trainingsanzug, zog ihn an und ging zurück in die Stube.
Benjamin Fjeld hockte vor dem Kamin und schichtete Kleinholz auf die Feuerstelle. »Ist das okay?«, fragte er und griff nach einer Schachtel Streichhölzer, die auf dem Kaminsims lag.
»Ja, unbedingt. Super. Ich habe ihn noch nicht ausprobiert, Sie müssen also die Luftklappe kontrollieren und alles.«
»Wie lange sind Sie schon hier?«, fragte er und riss ein Streichholz an.
»Ich bin gestern gekommen.«
»Ist das Ihre Hütte?«
»Nein, Papas«, sagte sie lächelnd. »Er hatte sie gerade erst von seinem Onkel übernommen.«
»Wohnen Sie allein hier?«
»Ich wohne in Oslo, ich bin nur hergekommen, um ein paar Tage auszuspannen.«
Das Feuer erfasste das trockene Holz. Benjamin Fjeld legte einige große Scheite aus dem Holzkorb nach und setzte sich in den Sessel am Fenster.
Line ging zur Küchenecke hinüber. »Ich muss was Warmes haben«, sagte sie. »Möchten Sie eine Tasse Tee?«
»Ja, gern.«
Line betrachtete ihn verstohlen, während sie den Kessel mit Wasser füllte. Er war in ihrem Alter. Groß, breite Schultern. Das dunkle Haar war vielleicht ein bisschen zu kurz für ihren Geschmack, aber das betonte die klaren, ausgeprägten Gesichtszüge. Sie ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie sich nicht geschminkt hatte, nicht einmal geduscht und zurechtgemacht, bevor sie zu ihrem Spaziergang aufgebrochen war.
»Woher sind Sie?«, fragte sie.
»Bj ø rkelangen«, erwiderte er. »Das ist ein kleines Nest ganz im Osten von Akershus.«
Line wusste, wo das war. Sie war im vergangenen Jahr für ihre Zeitung dort gewesen, wegen einer Vermisstensache. Es war ein idyllisches Walddorf. »Arbeiten Sie schon lange hier?«
»Fast zwei Jahre. Nach der Polizeischule habe ich meinen ersten Dienst in Oslo angetreten, aber dann habe ich mich hierher beworben. Meine Familie hat hier jahrelang Wohnwagenurlaub gemacht.«
»Und gefällt es Ihnen hier?«
»Ich mag die offene Landschaft. Wo ich herkomme, ist überwiegend Wald.«
»Ich vermisse die Gegend hier«, lächelte Line. »Oslo ist irgendwie so groß und fremd. Finden Sie nicht?«
Er stimmte zu und lächelte. »Eigentlich sollte ich ja hier die Fragen stellen.«
Sie lachte kurz auf und nahm ihm gegenüber Platz. Das Feuer im Kamin wärmte ihr den Rücken. »Tut mir leid«, sagte sie. »Alte Gewohnheit. Das gehört sozusagen zu meinem Job. Ich bin Journalistin.«
Er nickte und ihr wurde klar, dass es allgemein bekannt war, wo die Tochter des Chefs arbeitete. Gleichzeitig fiel ihr ein, dass sie ihre Redaktion über den Leichenfund benachrichtigen musste. Die Neuigkeit war noch nicht bekannt geworden und sie konnten die Ersten sein, die mit der Sache rauskamen. Sie sollte ihre Kamera nehmen und zurück an den Fundort gehen, bevor es zu spät war.
»Aber ich fürchte, ich kann Ihnen nicht viel erzählen«, fuhr sie fort. »Ich habe einen toten Mann in einem Boot gefunden, das war’s.«
Benjamin Fjeld hatte einen kleinen Notizblock herausgeholt und schlug eine neue Seite auf. »Sind Sie jemandem begegnet?«
Sie schüttelte den Kopf. »Viele gehen hier spazieren, aber es war zu früh am Tag und zu schlechtes Wetter.«
»Haben Sie andere Leute hier gesehen, nachdem Sie angekommen waren?«
Line hatte den Mann mit dem Fernglas schon vergessen, den sie am Tag zuvor bemerkt hatte, und nickte eifrig, als es ihr wieder einfiel. »Das war schon irgendwie auffällig«, schloss sie ihren Bericht ab. »Keine Ahnung, wonach der Ausschau gehalten hat.«
Benjamin Fjeld notierte, blickte auf und sah an ihr vorbei. »Das Wasser kocht«, sagte er.
»Oh, ja.«
Line stand auf, goss die Tassen nur halbvoll und trug sie zurück zum Tisch.
Benjamin Fjeld griff nach seiner Tasse und setzte sie vor sichtig an die Lippen. Sein sehniger Hals zog sich zusammen, als er schluckte. Dann erhob er sich, ging an Line vorbei und warf ein Holzscheit in den Kamin. Das Feuer flammte auf. Der Lichtschein spielte in seinen Augen, als er sich wieder setzte. Sie waren braun und im Innersten der Pupillen ganz dunkel.
Er zwinkerte und wandte sich wieder seinem Notizblock zu. »Wie sah er aus?«
»Hm?«
»Der Mann mit dem Fernglas. Wie sah er aus?«
»Ich habe ihn nur von Weitem gesehen. Er hatte einen schwarzen Regenmantel an, der ihm bis zu den Knien reichte, und
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