Winterfest
zuvor hatte sie sieben Seiten des Manuskripts geschrieben, das ein Kriminalroman werden sollte. Sie hatte schon öfter gedacht, dass es Spaß machen könnte, ihr Schreibtalent für etwas anderes zu nutzen als Zeitungsartikel und Porträtinterviews. Außer dem schriftstellerischen Handwerk verfügte sie durch ihren Vater über fundierte Kenntnisse der Polizei- und Ermittlungsarbeit.
Es hatte spielerisch begonnen. Sie erweckte eine fiktive Hauptperson zum Leben. Gab ihr Eigenschaften und Aussehen. Platzierte sie in Zeit und Raum und malte die Umgebung aus. Aber nach sieben Seiten war Ende. Sie las durch, was sie geschrieben hatte, und vieles war gut, aber es fehlten Form und Richtung.
Sie hatte die Küchenschränke geputzt und dabei überlegt, wie sie die Handlung aufbauen wollte. Als sie das Putzwasser auskippte, schwirrten ihr die Gedanken im Kopf herum, aber sie war zu müde, um sie zu ordnen. Die Gedankenflut hatte sie schlecht schlafen lassen, deshalb war sie so früh aufgewacht. Zu viele ungeklärte Gefühle rumorten in ihr und machten es ihr schwer, sich zu konzentrieren, und sie ertappte sich dabei, dass sie immer wieder an Tommy denken musste.
Zum Frühstück hatte sie zwei Scheiben Knäckebrot gegessen und eine Tasse Kaffee getrunken. Danach hatte sie beschlossen, einen langen Spaziergang zu machen und den Gedanken ihren Lauf zu lassen.
Sie war allein. Die Küstenlandschaft um sie herum war grau und unfreundlich. Die Wellen brachen sich an felsigen Inseln und Unterwasserriffen. Am Horizont glitt ein Frachter westwärts.
Das einsame Kreischen der Möwen klang im Wind wie höhnisches Gelächter. Von Weitem waren die Tiere schön anzusehen, ein herrlicher Anblick, wie sie durch die Luft glitten. Aber Line wusste, dass sie alles fraßen, was ihnen vor den Schnabel kam, und in ihrer Vorstellung waren es Aasvögel voller Parasiten.
Die Landschaft wechselte von Kullersteinstränden zu Dünen und windzerzaustem Niederwald. Line ging den Weg zwischen Wildrosen und Schlehenbüschen entlang, bis er mehr oder weniger zwischen nackten Felsen verschwand.
Am inneren Ende einer Bucht schwebte eine Schar Möwen über einem verlassenen Ruderboot. Sie stießen hinab und zankten sich um irgendetwas, das in dem Boot lag. Schlugen mit den Flügeln und zerrten an denselben Beutestücken. Diejenigen, die kein Stück erwischten, hackten nach denen, die etwas im Schnabel hatten. Die Möwen, die zu klein oder zu schwach waren, ließen ihre Beute fallen, und diejenigen, die stark genug waren, verschlangen gierig, was sie ergattert hatten, und wurden noch stärker.
Der Weg führte Line direkt zu dem Boot. Ihr Näherkommen schlug die Möwen in die Flucht.
Es war eine merkwürdige Stelle, um anzulegen. Das kleine Boot musste sich losgerissen haben und abgetrieben sein. Jetzt stieß es gegen die runden Steine.
Line erstarrte abrupt. In dem Boot war ein Mensch. Ein Mann saß unten auf dem Boden, halb gegen die hintere Ducht gelehnt und den Kopf in den Nacken gelegt. Die Augen waren ausgehackt. Sein Mund stand weit offen. Das schmale Gesicht war bleich und voller Totenflecken.
21
Der erste Anruf kam, als Wisting im Besprechungsraum an der schlichten Küchentheke stand und sich eine Tasse Kaffee eingoss.
Der Anrufer hieß Leif Malm und war Leiter der Sektion Nachrichtengewinnung im Polizeidistrikt Oslo.
»Wir haben eventuell Informationen, die von Interesse für euch sind«, begann er.
Wisting ging mit dem Telefon am Ohr in sein Büro.
»Einer unserer Informanten berichtet von einer Drogenlieferung, die am Freitagabend auf dem Seeweg aus Dänemark kommen sollte«, fuhr der andere mit rauer Stimme fort. »Die Partie sollte in der Nähe von Helgeroa an Land gehen, aber irgendwas ist schiefgelaufen. Der Hauptakteur soll mehrere Millionen verloren und bei einer Schießerei einen seiner eigenen Leute eingebüßt haben.«
Wisting setzte sich. Das klang, als würde da noch mehr kommen. »Wissen wir, wer der Hauptakteur ist?«
»Ja, ein gewisser Rudi Muller. Er ist einer der dicken Fische und der Kopf eines größeren Netzwerks, das Waffenhandel, Drogenhandel und Prostitution betreibt.«
Wisting nickte. Den Namen kannte er aus diversen Geheimdienstberichten über organisierte Kriminalität. »War er selbst hier?«
»Nein, es soll sich um zwei Männer handeln, die rübergefahren sind, um die Partie abzuholen. Es ist uns noch nicht gelungen, sie zu identifizieren.«
»Wissen wir, was schiefgegangen ist? Warum es nicht geklappt
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