Winterfest
eigenen Ordner des elektronischen Projektraums. Die Nahaufnahmen zeigten, dass große Teile des Gesichts von den Schnäbeln und Klauen der Vögel zerfetzt worden waren. Trotz der Schäden würden diejenigen, die den Mann zu Lebzeiten gekannt hatten, ihn wiedererkennen.
Er war um die dreißig, schmächtig und hatte ein Gesicht mit niedriger Stirn, schmalem Kiefer und einem kantigen Kinn mit hellen Bartstoppeln.
Wisting fragte sich, was die Augen, die jetzt nicht mehr da waren, vor nicht allzu langer Zeit gesehen hatten. Wann hatte er die Frau, deren Bild er bei sich trug, zum letzten Mal getroffen? Wie oft hatte er unwissend gelacht, während die Sekunden seines letzten Tages, seiner letzten Stunden verrannen? Und was hatte er gesehen, als ihm die Wahrheit, endlich und unwiderruflich, bewusst wurde?
Er klickte das Bild weg, griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer seiner Tochter.
»Willst du mit mir schimpfen?«, fragte sie.
»Wieso?«
»Hast du es nicht im Internet gelesen?«
Wisting rief die Onlineausgabe der VG auf. Ein Foto des Ruderboots draußen auf den Ufersteinen illustrierte den Aufmacher. Einige Polizisten in Uniform waren dazugekommen, nachdem Wisting den Fundort verlassen hatte, und das Bergungsschiff war dabei, das Boot ins Schlepptau zu nehmen. Lines Name stand diskret am Ende der Bildunterschrift, war aber taktvoll in der Verfasserzeile weggelassen worden.
Er erlebte oft, dass Zeugen oder andere Personen, die in Strafsachen involviert waren, sich von den Tippgeberhonoraren locken ließen und Kontakt zu den großen Zeitungen aufnahmen. Für Line ging es nur darum, ihren Job zu tun.
Sie hatte in ihm ein größeres Verständnis dafür geweckt, wie wichtig es war, dass die Polizei gegenüber der Presse offen, ehrlich und verantwortungsvoll auftrat und dass eine gute Kommunikation mit den Medien das geeignete Mittel war, um Kritik an der Polizei zu reduzieren. Viele Firmen und Organisationen taten alles, um in den Medien zu erscheinen. Für die Polizei verhielt sich die Sache anders. Sie war der Hauptlieferant von Nachrichtenstoff. Das gab ihnen als Polizisten eine gute Möglichkeit, die Informationen zu steuern. Sie mussten sich selbstverständlich an die Schweigepflicht und den Datenschutz halten, aber sie mussten auch lernen, die Medien als Partner in der Kommunikation mit der Öffentlichkeit zu sehen.
»Wie geht’s dir?«, fragte er, während er den Artikel überflog.
Die Zeitung fasste die Sache gut zusammen. Ein neuer Leichenfund in Larvik am Sonntagmorgen wurde mit dem maskierten Mordopfer in Verbindung gebracht, das am letzten Freitag in der Hütte des bekannten TV-Moderators Thomas R ø nningen gefunden worden war. Die Polizei kannte die Identität des neuen Toten nicht und tappte völlig im Dunkeln, welches der beiden Opfer das erste gewesen war. Die Identifizierungsarbeiten waren wesentlich erschwert, nachdem der Leichenwagen, der den Toten vom Freitag ins Rechtsmedizinische Institut bringen sollte, gestohlen und in Brand gesteckt worden war.
»Mir geht es gut«, versicherte seine Tochter. »Mach dir keine Gedanken.«
»Wie war es, vernommen zu werden?«
»Es war ja nicht das erste Mal.«
»Aber es ging alles glatt?«
»Na klar. Er war sehr nett, dein junger Kollege.«
»Benjamin. Ja, ein tüchtiger Mann.«
»Ich glaube, er war ein bisschen sauer, dass ich die Redaktion angerufen habe.«
»Kann ich verstehen.«
»Habt ihr herausgefunden, wer er ist? Der Tote im Boot?«
Wisting lachte. »Ich kann dir eine Pressemeldung schicken, wenn wir mehr wissen.« Er wechselte das Thema. »Kommst du heute Nachmittag nach Hause und isst zusammen mit mir und Suzanne?«
»Hast du denn Zeit dafür?«
»Ich nehme mir die Zeit.«
»Okay, aber danach fahre ich wieder hierher zurück.«
Sie verabredeten eine Uhrzeit und legten auf.
Benjamin Fjeld machte sich mit einem kurzen Klopfen an der offenen Bürotür bemerkbar. Wisting winkte ihn herein.
Der junge Polizist warf einen Blick auf den Bildschirm, den Lines Foto vom Fundort fast völlig ausfüllte. Er wirkte verlegen und blickte weg.
Wisting dachte kurz daran, etwas zur Journalistenrolle seiner Tochter zu sagen, wartete dann aber ab, was Benjamin Fjeld auf dem Herzen hatte.
»Ich glaube, wir haben den Besitzer des Bootes ausfindig gemacht«, sagte Fjeld mit einem Kopfnicken in Richtung Bildschirm.
»Lass hören«, forderte Wisting ihn auf.
»Ich hatte gerade einen Anruf von Ove Bakkerud.«
Wisting nickte. Ove Bakkerud war einer
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