Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Winterfest

Winterfest

Titel: Winterfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jørn Lier Horst
Vom Netzwerk:
an den Strand und den alten Holzsteg.
    Sie beschloss, in die andere Richtung zu gehen, nicht in dieselbe wie am Tag zuvor, als sie den toten Mann in dem Boot gefunden hatte. Richtung Westen war das Gelände anders. Der Wanderpfad führte sie in einen dichten Niederwald, in dem der Boden nass und aufgeweicht war. Jemand war vor ihr hier gegangen, entweder spät am Abend zuvor oder früh am selben Morgen. Große, tiefe Fußspuren verliefen in jene Richtung, in die sie auch ging.
    Line blieb stehen und lauschte. Zu beiden Seiten des schmalen Pfads war das Unterholz so dicht, dass man den Waldboden nicht sehen konnte. Geißblatt rankte mit üppigen Blütentrauben und breiten Blättern an den Baumstämmen empor. Irgendwo knackte ein Ast. Dann war es wieder still. Ein Vogel flog auf und verschwand.
    Sie ging weiter. Nach einer Weile lösten Dünen den sumpfigen Wald ab. Auf einer Klippe machte sie Halt und sog den Geruch von Tang und Salz ein.
    Es war ein schönes Motiv für ein Weitwinkelfoto, aber das Licht war etwas zu matt und der Kontrast zu gering. Sie griff nach der Kamera und suchte nach weicheren Motiven. Für die herbstlich gelben Blätter zur Landseite hin reichte das Licht ebenfalls nicht.
    Sie blickte durch den Sucher und machte ein paar Probefotos. Sie waren unterbelichtet und grobkörnig. Sie wählte eine andere Verschlusszeit, stellte sich breitbeinig hin, um die Kamera ruhig halten zu können, und versuchte es noch einmal. Das Ergebnis war etwas besser und sie hielt Ausschau nach anderen Motiven.
    Durch den Sucher fand sie zwei windzerzauste knorrige Kiefern auf einer Felsnase. Sie machte ein Foto, senkte das Objektiv und wollte es gerade wieder heben, als sie etwas bemerkte. Auf einem tiefer gelegenen Vorsprung war etwas, das nicht in die wettergegerbte Landschaft passte. Etwas von Menschenhand Gemachtes.
    Sie zoomte darauf und sah es nun deutlicher. Zwischen zwei Felsblöcken klemmten Holzstöcke, über die eine grüne Plane gebreitet war. Davor waren Holzbretter aufgestellt, und über dem Ganzen lag ein Tarnnetz, das die gebrechliche Konstruktion vor Blicken verbergen sollte.
    Sie machte ein paar Aufnahmen, verstaute die Kamera und musste einen Felssturz umrunden, um zu der versteckten Stelle zu gelangen.
    Als sie dort ankam, sah sie, dass die provisorische Hütte auf der Rückseite ebenfalls an eine Felswand grenzte. Es hätte etwas sein können, was Kinder gebaut hatten, aber dafür war der Platz zu ungewöhnlich. Die nächsten Häuser waren weit entfernt und es gab keinen Pfad, der zu dem kleinen Felsvorsprung geführt hätte.
    Die Bretter auf der Frontseite hatten Öffnungen, die an Schießscharten erinnerten. Sie griff hinein und stellte die Bretter beiseite.
    Drinnen lagen eine Isomatte und ein Schlafsack. An der Felswand standen eine Propangaslampe und ein Sturmkocher. Daneben lagen eine Wasserflasche und ein paar leere Konservendosen.
    Sie ging in die Knie und kroch in den Unterschlupf hinein. In den Felsspalten steckten verschiedene Vogelfedern. Sie zog eine davon heraus und rollte sie zwischen den Fingern.
    Plötzlich hatte sie das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden. Sie ließ die Feder fallen und drehte sich zu der kleinen Eingangsöffnung um. Dort war niemand, aber sie kroch eilig wieder hinaus und setzte die Holzbretter zurück an ihren Platz.
    Als sie dem kleinen Versteck den Rücken kehrte, hörte sie ein seltsames Rascheln, und gleichzeitig verdunkelte sich der Himmel. Sie blickte auf und sah einen großen Vogelschwarm, der aus dem Wald hinter ihr aufstieg. Er bewegte sich, als wäre die ganze Gruppe ein zusammenhängender Organismus. Das Rauschen der Flügelschläge wurde lauter, ehe der gesamte Schwarm nach rechts schwenkte, hoch über ihrem Kopf aufstieg und Richtung Westen verschwand.
    Line merkte plötzlich, dass sie fror. Sie schlug den Jackenkragen hoch und ging rasch zurück zu dem Pfad, der sie wieder zu ihrer Hütte führte.

30
    Ein Mann stand auf der breiten Veranda, als Line zur Hütte zurückkam. Er hatte die Hände schützend an das große Wohnzimmerfenster gelegt und schaute hinein. Erst als sie näher kam, sah sie, dass es ihr Vater war. Sie rief ihm zu und er drehte sich um und winkte.
    »Was machst du denn hier?«, fragte sie und ging zu ihm auf die Veranda.
    »Ich wollte sehen, wie es dir geht.«
    »An einem Montagmorgen um neun?«
    »Ich war in der Nähe«, sagte er lächelnd.
    »Das hier ist in der Nähe von gar nichts«, erwiderte sie und drehte den Kopf in

Weitere Kostenlose Bücher