Winterfest
vermutete, Muller habe seinen Anteil an der Beute aus einem unaufgeklärten Überfall auf ein Osloer Juweliergeschäft im vergangenen Jahr in das Restauranthaus Shazam Station investiert.
Früher war Rudi Muller selbst als Verbrecher aktiv gewesen. Inzwischen agierte er als Hintermann und war für die Polizei offenbar unangreifbar.
Line schluckte, holte tief Luft und spürte, wie etwas Kaltes über ihr Herz strich.
54
Eine ältere Dame lächelte ihnen tapfer entgegen, als sie aus dem Restaurant kamen. Sie saß auf einem Jutesack und streckte ihre schmutzige Hand nach einem Almosen aus. Wisting ließ ein paar Münzen, die lose in seiner Jackentasche lagen, in ihre Hand fallen. Sie verbeugte sich und dankte.
An der nächsten Straßenecke trafen sie auf weitere Bettler. Kleine Kinder, die am Rinnstein auf dem Schoß ihrer Mütter saßen und mit flehenden Blicken Prasom! Prasom! riefen.
Wisting musste mit leeren Taschen vorbeigehen. Ein Stück weiter saß ein blinder Mann vor einer Gucci- Boutique. Der Blechnapf vor ihm war so gut wie leer. An der Hauswand hinter ihm lag ein anderer Bettler und schlief seinen Wodka-Rausch aus.
Sie gingen stumm zum Hotel zurück. Wisting lehnte Ahlbergs Vorschlag ab, an der Bar noch ein Glas zu trinken, und ging direkt auf sein Zimmer. Er zog die Schuhe aus, hängte sein Jackett über einen Stuhl und legte sich rücklings auf das Bett. So blieb er eine Weile liegen und ließ die Gedanken wandern. Er hatte das Gefühl, dass der Fall sich auf einen katastrophalen Endpunkt zubewegte. Ihm kam eine Alternative in den Sinn, die er am nächsten Morgen mit Leif Malm besprechen wollte. Möglicherweise konnten sie Rudi Muller aufgrund der Informationen festnehmen, die ihnen vorlagen. Es wäre allerdings riskant, nicht zuletzt für die Sicherheit der Quelle, die die Osloer Polizei abschöpfte.
Die wichtigste Aufgabe der Polizei bestand in der Vor beugung und Verhinderung von Verbrechen. Das beinhaltete, dass sie nicht nur Menschen davor schützte, Opfer von Verbrechen zu werden, sondern auch potenziellen Tätern lange Gefängnisstrafen zu ersparen.
Es gab keine Beweise, dass Rudi Muller in den Mord verwickelt war. Allerdings konnte eine Festnahme neue Beweise zutage fördern. Es war, als werfe man einen Stein ins Wasser. In einigen der Ringe, die sich ausbreiteten, würden Informationen auftauchen, die sie gegen ihn verwenden konnten, aber es gab keine Garantie dafür, dass sie ihnen etwas nützten. Es bestand die Gefahr, dass er heil aus allem herauskam.
Wisting verschränkte die Hände hinter dem Kopf und ihm fiel ein, dass er an diesem Tag noch gar nicht mit Suzanne gesprochen hatte. Er griff zu seinem Handy, wählte ihre Nummer und merkte, wie allein schon der Klang ihrer Stimme ihn in bessere Laune versetzte.
»Wir hatten so schönes Wetter heute«, erzählte sie. »Ich habe nach der Arbeit einen langen Spaziergang gemacht.«
»Du warst nicht draußen in der Hütte bei Line?«
»Nein. Ich habe sie angerufen. Da war sie unterwegs zum Einkaufen.«
»Wie geht es ihr?«
»Tommy hat sie besucht.«
»Warum das?«
Er hörte, wie Suzanne Luft holte und einen Moment innehielt, ehe sie antwortete.
»Er hat bei ihr übernachtet.«
Wisting stöhnte unwillkürlich auf und kniff die Augen zu. »Sind sie wieder zusammen?«
»Ich habe es nicht so verstanden, aber er ist gestern am späten Abend gekommen und lange im Regen herumgewandert, bevor er die Hütte fand. Sie hat ihm erlaubt, bis heute zu bleiben.«
»Was wollte er?«
»Mit ihr reden. Es ist sicher für beide nicht leicht. Ich habe ihr gesagt, dass ich sie morgen besuchen komme. Ich bin ja auch ein bisschen neugierig, wie es da draußen aussieht.«
Dann wechselte Suzanne das Thema und erzählte von den Handwerkern in ihrem Haus, die bald fertig sein würden, und von der Strategiebesprechung in ihrer Abteilung, ehe sie fragte, wie sein Tag gewesen war.
Wisting berichtete von der Armut, die er gesehen hatte. Von all den Menschen, die ohne Hoffnung auf eine Zukunft lebten.
»Deswegen kommen sie wohl her und begehen Einbrüche«, kommentierte Suzanne.
»Was meinst du?«
»Wahrscheinlich sehen sie darin ihre Chance, ihre Träume von einem besseren Leben zu verwirklichen.«
Wisting antwortete nicht. Vermutlich hatte sie recht.
»Was machst du jetzt?«, fragte er und sah, dass es kurz nach dreiundzwanzig Uhr war, jedenfalls zu Hause in Norwegen.
»Auf TV2 hat gerade ein Film angefangen«, erwiderte sie. »Den wollte ich mir
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