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Winterjournal (German Edition)

Winterjournal (German Edition)

Titel: Winterjournal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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müde durch die laue Sommerluft nach Süden, durch die leeren Straßen deinem kleinen leeren Zimmer entgegen. Binnen kurzem bist du auf der rue Saint-Denis, wo trotz der späten Stunde noch etliche Mädchen arbeiten, und dann wendest du dich in eine Seitenstraße, dorthin, wo sich die hübschesten Mädchen zu versammeln pflegen, denn du begreifst, du hast noch keine Lust, nach Hause zu gehen, du bist zu lange allein gewesen und fürchtest dich vor deinem leeren Zimmer, und nach wenigen Schritten fällt dir jemand ins Auge, eine große Brünette mit reizendem Gesicht und nicht minder reizender Figur, und als sie dir zulächelt und dich fragt, ob du Gesellschaft haben möchtest
(Je t’accompagne?)
, nimmst du ihr Angebot, ohne zu zögern, an. Wieder lächelt sie, freut sich über die schnelle Abwicklung des Geschäfts, und als du ihr genauer ins Gesicht siehst, bemerkst du, dass sie eine atemberaubende Schönheit wäre, wenn nur nicht ihre Augen zu nah beieinanderstehen würden, wenn sie nur nicht ein wenig schielen würde, aber das spielt für dich keine Rolle, sie ist immer noch die reizvollste Frau, die hier jemals auf den Strich gegangen ist, und ihr Lächeln entwaffnet dich, ihr hinreißendes Lächeln, und du denkst, wenn alle auf der Welt so lächeln könnten wie sie, würde es keine Kriege und keine zwischenmenschlichen Konflikte mehr geben, würden auf Erden nur noch Frieden und Glückseligkeit herrschen. Sie heißt Sandra, eine Französin, Mitte zwanzig, und während du ihr die Wendeltreppe in den dritten Stock des Hotels hinauf folgst, erklärt sie, du bist ihr letzter Kunde für diese Nacht, es gibt also keinen Grund zur Eile, du kannst dir Zeit lassen, so viel du willst. Das hast du noch nie erlebt, es verstößt gegen alle Regeln ihres Berufs, aber du hast längst begriffen, dass Sandra anders ist als die anderen Straßenmädchen, dass ihr die Härte und Kälte abgeht, die der Job normalerweise zu erfordern scheint. Dann bist du mit in ihr Zimmer, und weiter ist alles anders als deine bisherigen Erlebnisse in diesem Teil der Stadt. Sandra ist entspannt, freundlich und mitteilsam, und auch als ihr beide euch auszieht, auch als du feststellst, was für einen ungewöhnlich schönen Körper sie hat (
majestätisch
ist das Wort, das dir dazu einfällt, genau wie man die Körper gewisser Tänzer als majestätisch bezeichnen kann), redet sie munter weiter, hat keine Eile, zur Sache zu kommen, reagiert kein bisschen verärgert auf dein Verlangen, sie zu berühren, sie zu küssen, sondern macht es sich neben dir auf dem Bett bequem und fängt an, dir das Kamasutra der rue Saint-Denis, die verschiedenen Liebesstellungen vorzuführen, die sie und ihre Freundinnen mit ihren Freiern einnehmen, verrenkt sich in alle Richtungen, zur Seite, nach hinten und vorn, hilft dir, deinen Körper in passende Positionen zu biegen, und lacht leise über die Absurdität des Ganzen, während sie die Namen all dieser Stellungen aufzählt. Leider kannst du dich jetzt nur noch an eine erinnern, wahrscheinlich die reizloseste, aber auch die komischste, eben weil sie so reizlos ist:
le paresseux
, das Faultier, wobei Mann und Frau, einander zugewandt, einfach auf der Seite liegen. Noch nie hast du eine Frau getroffen, die sich so mit ihrem Körper auskennt, die ihre Nacktheit mit solcher Gelassenheit trägt, und irgendwann, auch wenn diese Vorführungen deinethalben gern noch bis zum Morgen weitergehen dürften, bist du so erregt, dass du es nicht länger hinauszögern kannst. Du nimmst an, das war’s, bisher war
jouissance
noch immer das Ende gewesen, aber auch nachdem du fertig bist, drängt Sandra dich nicht zum Gehen, will sie weiter mit dir im Bett liegen und reden, und so bleibst du noch fast eine Stunde lang bei ihr, zufrieden in ihren Armen, deinen Kopf an ihrer Schulter, und sprichst über Dinge, die du inzwischen längst vergessen hast, und als sie schließlich fragt, was du sonst noch so machst, und du erzählst, dass du Gedichte schreibst, erwartest du, dass sie gleichgültig mit den Achseln zuckt oder irgendeine nichtssagende Bemerkung von sich gibt, aber nein, noch einmal nein, denn kaum fängst du von Gedichten an, schließt Sandra die Augen und beginnt Baudelaire zu zitieren, lange Passagen, die sie mit viel Gefühl und absolut fehlerlos vorträgt, und du kannst nur hoffen, dass Baudelaire sich in seinem Grab aufrichtet und zuhört.
    Mère des souvenirs, maîtresse des maîtresses,
    O toi, tous mes plaisirs! ô toi, tous

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