Winterjournal (German Edition)
Zeit stillsitzen können, und wenn du eine Karte deines Landes aufschlägst und zu zählen beginnst, stellst du fest, dass du bereits in vierzig der fünfzig Bundesstaaten gewesen bist, manchmal nur auf der Durchreise (zum Beispiel Nebraska, 1976 auf der Zugfahrt an die Westküste), häufiger aber für mehrere Tage, Wochen oder gar Monate, zum Beispiel Vermont, oder Kalifornien, wo du nicht nur ein halbes Jahr lang gelebt hast, sondern auch, nachdem deine Mutter und dein Stiefvater Anfang der siebziger Jahre dorthin gezogen waren, öfter zu Besuch gewesen bist, zu schweigen von den fünfundzwanzig oder siebenundzwanzig Reisen nach Nantucket, den jährlichen Sommerbesuchen bei deinem Freund, der auf der Insel ein Haus besitzt, Jahr für Jahr mindestens eine Woche, was zusammengerechnet ungefähr sechs Monate ergibt, und dazu die vielen Monate, die du mit deiner Frau in Minnesota verbracht hast, die zwei ganzen Sommer, die ihr dort gewohnt habt, als ihre Eltern in Norwegen waren, die unzähligen Frühjahrs- und Winterreisen in den Achtzigern, Neunzigern und Nullern, insgesamt vielleicht fünfzig, also mehr als ein Jahr deines Lebens, und die häufigen Ausflüge nach Boston, schon seit deiner Teenagerzeit, die ausgedehnten Streifzüge durch den Südwesten, 1985 und 1999 , oder 1970 die verschiedenen Häfen an den Golfküsten von Texas und Florida, wo dein Tanker anlegte, als du bei der Handelsmarine warst, die Gastprofessuren, die dich nach Philadelphia, Cincinnati, Ann Arbor, Bowling Green, Durham und Normal, Illinois, geführt haben, die Amtrak-Trips nach Washington, D. C., für das National Story Project des NPR , die vier Monate Sommercamp in New Hampshire als Acht- und Zehnjähriger, die drei langen Aufenthalte in Maine ( 1967 , 1983 und 1999 ) und, nicht zu vergessen, 1986 bis 1990 die wöchentlichen Heimfahrten nach New Jersey, als du den Lehrauftrag in Princeton hattest. Wie viele Tage nicht zu Hause, wie viele Nächte in Betten, die nicht dein Bett waren? Nicht nur hier in Amerika, sondern auch im Ausland, denn wenn du in deinem Atlas eine Weltkarte aufschlägst, siehst du, dass du mit Ausnahme von Afrika und der Antarktis in allen Kontinenten gewesen bist, und selbst wenn du deine dreieinhalb Jahre in Frankreich außer Acht lässt (wo du, zeitweilig, auch einige ständige Adressen hattest), bist du häufig und manchmal ziemlich lange in fremden Ländern gewesen: ein zusätzliches Jahr in Frankreich auf etlichen anderen Reisen, bevor und nachdem du dort gelebt hast, fünf Monate in Portugal (hauptsächlich 2006 für die Dreharbeiten zu deinem letzten Film), vier Monate in Großbritannien (England, Schottland und Wales), drei Monate in Kanada, drei Monate in Italien, zwei Monate in Spanien, zwei Monate in Irland, anderthalb Monate in Deutschland, anderthalb Monate in Mexiko, anderthalb Monate auf der Insel Bequia (eine der Grenadinen), einen Monat in Norwegen, einen Monat in Israel, drei Wochen in Japan, zweieinhalb Wochen in Holland, zwei Wochen in Dänemark, zwei Wochen in Schweden, zwei Wochen in Australien, neun Tage in Brasilien, acht Tage in Argentinien, eine Woche auf Guadeloupe, eine Woche in Belgien, sechs Tage in der Tschechischen Republik, fünf Tage auf Island, vier Tage in Polen und zwei Tage in Österreich. Du würdest gern ausrechnen, wie viele Stunden du auf Reisen zu all diesen Orten verbracht hast (das heißt, wie viele Tage, Wochen oder Monate), aber wie sollst du das anfangen, du weißt ja gar nicht mehr, wie oft du in Amerika unterwegs gewesen bist, hast keine Ahnung, wie oft du Amerika verlassen hast, und könntest daher niemals auch nur annähernd ermitteln, wie viele tausend Stunden deines Lebens du zwischen zwei Orten verbracht hast, auf Hin- und Herreisen, die Unmengen von Zeit, die du in Flugzeugen, Bussen, Zügen und Autos gesessen hast, die Zeit, die du zum Überwinden des Jetlags vergeudet hast, die langweilige Warterei in Flughäfen, bis dein Flug aufgerufen wird, die geisttötende Warterei, bis endlich dein Gepäck aufs Förderband plumpst, aber nichts versetzt dich in größere Unruhe als das Fliegen im Flugzeug selbst, das seltsame Gefühl, nirgendwo zu sein, das dich jedes Mal erfasst, wenn du in die Kabine trittst, der irreale Zustand, mit achthundert Stundenkilometern durch den Raum geschleudert zu werden, so hoch über dem Erdboden, dass du anfängst, an deiner Existenz zu zweifeln, als ob deine Körperlichkeit dir langsam ausgesogen würde, aber das ist der Preis dafür,
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