Winterjournal (German Edition)
die beschauliche Abgeschiedenheit, die es dir und deiner Frau erlaubte, ungestört eurer Arbeit nachzugehen. Und so seid ihr immer wieder hingefahren, einen Sommer nach dem andern, habt dort den zweiten Geburtstag eurer Tochter gefeiert, ihren dritten Geburtstag, ihren vierten Geburtstag, ihren fünften Geburtstag, ihren sechsten Geburtstag, und schließlich habt ihr sogar mit der Idee gespielt, das Haus zu kaufen, was nicht viel gekostet hätte, viel weniger als jedes andere Haus im weiten Umkreis, doch als ihr bedachtet, was es kosten würde, eure Sommerruine zu restaurieren, sie vor dem drohenden endgültigen Verfall zu retten, war schnell klar, dass ihr euch ein solches Unternehmen nicht leisten konntet und dass ihr, falls ihr tatsächlich so viel Geld zur Verfügung hättet, lieber aus eurer zu kleinen Eigentumswohnung in der Third Street ausziehen und euch in New York etwas Größeres suchen solltet.
[ 21 .] Irgendwo in Park Slope; Brooklyn. Ein vierstöckiges Brownstone-Haus mit einem kleinen Garten, erbaut 1892 . Alter: 46 bis heute. Deine Frau verließ Minnesota im Herbst 1978 , um an der Columbia in englischer Literatur zu promovieren. Für die Columbia entschied sie sich, weil sie in New York sein wollte, hatte größere, imposantere Stipendien von Cornell und Michigan ausgeschlagen, um in New York zu sein, und als du sie im Februar 1981 kennenlerntest, war sie schon eine altgediente Manhattanerin, eine engagierte Manhattanerin, eine Frau, die sich längst nicht mehr vorstellen konnte, woanders zu leben. Dann tat sie sich mit dir zusammen und landete im städtischen Hinterland von Brooklyn. Nicht unglücklich, mag sein, aber Brooklyn hatte für sie nie zur Debatte gestanden, und als ihr zwei jetzt beschlossen hattet, euch eine andere Wohnung zu suchen, erklärtest du dich bereit, ihr überallhin zu folgen, Brooklyn sei dir nicht so sehr ans Herz gewachsen, dass es dich schmerzen würde, von dort wegzugehen, und wenn sie nach Manhattan zurückwolle, würdest du dich gern mit ihr dort auf die Suche machen. Nein, sagte sie, ohne lange nachzudenken, ohne lange nachdenken zu müssen, lass uns in Brooklyn bleiben. Sie wollte nicht nur nicht nach Manhattan zurück, vielmehr wollte sie genau in der Gegend bleiben, in der ihr euch eingelebt hattet. Zum Glück war der Immobilienmarkt inzwischen zusammengebrochen, und obwohl ihr die damals überteuerte Wohnung nur mit Verlust verkaufen konntet, reichte der Erlös für ein neues Haus – nicht ganz, aber der Kauf brachte jedenfalls keine dauerhaften Probleme mit sich. Ein Jahr lang habt ihr beharrlich gesucht, und nach Vertragsabschluss hat es noch einmal sechs Monate gedauert, bis ihr einziehen konntet, aber dann hat es euch gehört, ein Haus, endlich groß genug für euch alle, genug Zimmer für euch alle, genug Stellflächen für eure zigtausend Bücher, eine Küche, in der man sich bewegen konnte, Badezimmer, in denen man sich bewegen konnte, ein Gästezimmer für Freunde und Verwandte, eine von der Küche aus zugängliche Terrasse, auf der man bei schönem Wetter essen und trinken konnte, unten ein kleiner Garten, und im Lauf der achtzehn Jahre, die ihr jetzt dort lebt, viel länger, als du jemals an irgendeinem Ort gelebt hast, dreimal länger, als du jemals irgendwo gelebt hast, habt ihr nach und nach jedes Zimmer auf jeder Etage von Grund auf renoviert und verschönert und aus einem ziemlich schäbigen, heruntergekommenen alten Haus ein funkelndes Schmuckstück gemacht, ein Haus, das zu betreten dir jedes Mal Freude macht, und nach achtzehn Jahren bist du längst darüber hinaus, an Häuser in anderen Wohnvierteln, anderen Städten, anderen Ländern zu denken. Hier lebst du, und hier willst du leben, bis du nicht mehr die Treppen hinauf- und hinuntergehen kannst. Nein, mehr noch: bis du die Treppen nicht mehr hinauf- und hinunter
kriechen
kannst, bis sie dich hinaustragen und ins Grab legen.
Einundzwanzig ständige Wohnsitze von der Geburt bis zur Gegenwart, auch wenn
ständig
kaum das richtige Wort zu sein scheint, wenn du bedenkst, wie oft du im Lauf deines Lebens umgezogen bist. Einundzwanzig Haltepunkte also, fast zwei Dutzend Adressen auf dem Weg zu der einen Adresse, die sich als ständig erweisen könnte (oder auch nicht), und auch wenn es stimmt, dass du dich in diesen einundzwanzig Häusern und Wohnungen eingelebt, deine Gas- und Stromrechnungen bezahlt und dich ins Wahlregister eingetragen hattest, hat doch dein Körper selten für längere
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