Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Winterjournal (German Edition)

Winterjournal (German Edition)

Titel: Winterjournal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
dein Zuhause zu verlassen, und solange du weiter auf Reisen gehst, wird das Nirgendwo zwischen dem Hier deines Zuhauses und dem Dort des Anderswo ebenfalls einer der Orte sein, an dem du lebst.
     
    Du möchtest wissen, wer du bist. In Anbetracht verschwindend weniger Anhaltspunkte gehst du davon aus, dass du das Ergebnis ausgedehnter prähistorischer Wanderungsbewegungen bist, von Eroberungen, Vergewaltigungen und Entführungen, dass die weitschweifigen Kreuz- und Querzüge deiner Urhorde sich über viele Territorien und Königreiche erstreckt haben, denn schließlich bist du nicht der Einzige, der Reisen unternommen hat, ganze Völkerschaften ziehen seit Jahrzehntausenden auf der Erde umher, und wer weiß, wer wen zeugte, der wen zeugte, der wen zeugte, der wen zeugte, der wen zeugte, bis am Ende deine zwei Eltern im Jahre 1947 dich zeugten? Du kommst nur bis zu deinen Großeltern, weißt gerade noch ein bisschen über deine Urgroßeltern mütterlicherseits, und das heißt, die Generationen davor sind allesamt unbeschriebene Blätter, über die du nur Mutmaßungen und Spekulationen anstellen kannst. Alle vier Großeltern waren osteuropäische Juden, die zwei auf deines Vaters Seite geboren Ende der 1870 er Jahre in der galizischen Provinzstadt Stanislau, die zu der Zeit noch zu Österreich-Ungarn gehörte, nach dem Ersten Weltkrieg zu Polen, nach dem Zweiten Weltkrieg zur Sowjetunion und seit dem Ende des Kalten Kriegs zur Ukraine, wohingegen die zwei auf deiner Mutter Seite 1893 und 1895 geboren wurden, deine Großmutter in Minsk und dein Großvater in Toronto – ein Jahr nachdem seine Familie aus Warschau ausgewandert war. Beide Großmütter waren rothaarig, und ihre vielen Nachkommen auf beiden Seiten der Familie warten mit einem chaotischen Durcheinander physischer Merkmale auf, von dunkelhaarig bis blond, von braunhäutig bis blass und sommersprossig, von gelocktem und welligem Haar bis zu nicht gelocktem und nicht welligem Haar, von gedrungenen Bauernkörpern mit stämmigen Beinen und dicken Fingern bis zu den ranken schlanken Konturen anderer Körper. Der osteuropäische Genpool. Aber wer weiß, wo diese namenlosen Geister umherirrten, bevor sie in die Städte von Russland, Polen und Österreich-Ungarn kamen, denn wie sonst ist zu erklären, dass deine Schwester mit einem blauen Mongolenfleck auf dem Rücken geboren wurde, ein Phänomen, das ausschließlich bei asiatischen Babys auftritt, und wie sonst ist zu erklären, dass du mit deiner bräunlichen Haut, deinem welligen Haar und deinen graugrünen Augen dein Leben lang ethnisch nicht einzuordnen warst und immer wieder von Fremden zu hören bekamst, du seist doch Italiener, Grieche, Spanier, Libanese, Ägypter oder gar Pakistaner? Da du nichts über deine Ursprünge weißt, hast du schon vor langer Zeit beschlossen, dich für ein Gemisch sämtlicher Rassen der östlichen Hemisphäre zu halten, teils Afrikaner, teils Araber, teils Chinese, teils Inder, teils Kaukasier, für einen Schmelztiegel verschiedenster Zivilisationen in einem einzigen Körper. Das ist nicht zuletzt auch eine moralische Position, eine Möglichkeit, die Frage nach der Rasse zu vermeiden, eine deiner Meinung nach sinnlose Frage, die dem, der sie stellt, nur Schande bringen kann, weshalb du dich bewusst dafür entschieden hast, jeder zu sein, jeden in dir willkommen zu heißen, um komplett und frei du selbst sein zu können, weil, wer du bist, ein Rätsel bleibt und du keine Hoffnung hast, dass du es jemals lösen wirst.
     
    Dein Geburtstag ist gekommen und gegangen. Jetzt also vierundsechzig Jahre, langsam, aber sicher dem Seniorenalter entgegen, den Tagen von Medicare und Sozialleistungen, der Zeit, da immer mehr deiner Freunde dich verlassen haben werden. So viele von ihnen sind schon gegangen – aber warte nur erst die Sintflut ab, die noch kommt. Zu deiner großen Erleichterung ist die Sache ohne Zwischenfälle und Theater abgelaufen, du hast es locker hinter dich gebracht, ein kleines Dinner mit Freunden in Brooklyn, bei dem du kaum an das unmögliche Alter gedacht hast, in das du jetzt eingetreten bist. Der dritte Februar, nur einen Tag nach dem Geburtstag deiner Mutter, bei der am Morgen ihres zweiundzwanzigsten Geburtstags die Wehen einsetzten, neunzehn Tage vor dem errechneten Termin, und als der Arzt dich mit einer Zange aus ihrem betäubten Körper zog, war es zwanzig Minuten nach Mitternacht, keine halbe Stunde nachdem ihr Geburtstag zu Ende gegangen war. Ihr habt eure

Weitere Kostenlose Bücher