Winterjournal (German Edition)
Hände und Füße, Schultern und Oberkörper, aber nur die Vorderseite, nicht die Rückseite, außer der Rückseite deiner Beine, wenn du sie in die richtige Position verdrehst, aber nicht dein Gesicht, nie dein Gesicht, aber letztlich – zumindest soweit es andere betrifft – ist dein Gesicht doch, wer du bist, die wesentliche Tatsache deiner Identität. Pässe enthalten keine Fotos von Händen und Füßen. Selbst du, der du jetzt seit vierundsechzig Jahren in deinem Körper lebst, wärst wahrscheinlich nicht in der Lage, deinen Fuß auf einem einzelnen Foto deines Fußes zu erkennen, zu schweigen von deinem Ohr, deinem Ellbogen oder einem deiner Augen in Nahaufnahme. Alles so vertraut im Kontext des Ganzen, aber absolut anonym, wenn es Stück für Stück betrachtet wird. Wir alle sind uns selbst fremd, und wenn wir irgendeine Ahnung haben, wer wir sind, dann nur, weil wir in den Augen anderer leben. Überleg, was dir passiert ist, als du vierzehn warst. Gegen Ende des Sommers hast du zwei Wochen lang für deinen Vater in Jersey City gearbeitet, Teil eines der kleinen Teams, die Wartungs- und Instandhaltungsarbeiten in den Wohnhäusern erledigten, deren Eigentümer und Verwalter er und seine Brüder waren: Wände und Decken streichen, Dächer ausbessern, Nägel in dicke Balken schlagen, verschlissenes Linoleum streifenweise von Fußböden reißen. Deine beiden Kollegen waren schwarz, sämtliche Mieter in sämtlichen Wohnungen waren schwarz, sämtliche Bewohner des Viertels waren schwarz, und nachdem du zwei Wochen lang nichts als schwarze Gesichter gesehen hattest, war dir kaum noch bewusst, dass dein eigenes Gesicht nicht schwarz war. Du konntest dein eigenes Gesicht nicht sehen, du sahst dich nur in den Gesichtern der Menschen in deiner Umgebung, und so fiel die Vorstellung, du seist anders als sie, nach und nach von dir ab. Am Ende hattest du überhaupt keine Vorstellung mehr von dir.
Du siehst deine rechte Hand und den schwarzen Füllfederhalter darin, mit dem du dieses Journal schreibst, und denkst an Keats, der unter ähnlichen Umständen seine rechte Hand betrachtete – beim Schreiben eines seiner letzten Gedichte – und plötzlich abbrach und acht Zeilen an den Rand des Manuskripts kritzelte, den bitteren Aufschrei eines jungen Mannes, der wusste, dass ihn ein frühes Grab erwartete, düster betont durch das Wort
noch
in der ersten Zeile, denn jedes
noch
lässt notwendig an ein
später
denken, und das einzige
später
, dem Keats entgegensehen konnte, war sein Tod.
Die warme Hand, die noch voll Leben ist
Und zupackt mit Begier, die würde dich,
Läg sie erstarrt in eisig stummer Gruft,
So jagen tags und so durchkälten nachts,
Dass du dein eigen Herzblut gäbst für sie,
Damit es rot durch meine Adern rausch
Und dir wär wieder leicht zumut – hier, schau:
Ich halte sie dir hin!
Zunächst also Keats, aber kaum denkst du an
die warme Hand, die noch voll Leben ist
, fällt dir eine Geschichte ein, die dir einmal jemand über James Joyce erzählt hat: Joyce im Paris der 1920 er Jahre, vor fünfundachtzig Jahren steht er da auf einer Party herum, als eine Frau an ihn herantritt und fragt, ob sie die Hand schütteln dürfe, die
Ulysses
geschrieben habe. Statt ihr seine rechte Hand anzubieten, hebt Joyce sie leicht an, betrachtet sie ein wenig und sagt: «Ich möchte Sie daran erinnern, Madam, dass diese Hand noch viele andere Dinge getan hat.» Keine Details, und doch, was für ein Geniestreich an Schweinigelei und Anzüglichkeit, und umso wirkungsvoller, weil er alle Weiterungen der Phantasie der Fragestellerin überlässt. Was möchte er sie sehen lassen? Wie er sich den Hintern abwischt, vermutlich, in der Nase bohrt, nachts im Bett masturbiert, seine Finger in Noras Möse steckt und an ihrem Arschloch spielt, Pickel ausdrückt, Essensreste aus den Zähnen pult, Nasenhaare auszupft, Schmalz aus seinen Ohren kratzt – sie kann die Leerstellen selber ausfüllen, mit allem, was ihr besonders widerwärtig ist. Deine Hände haben dir natürlich ähnliche Dienste geleistet, jedermanns Hände haben diese Dinge getan, meist aber sind sie mit Dingen beschäftigt, die wenig oder gar kein Nachdenken erfordern. Türen auf- und zumachen, Glühbirnen einschrauben, Telefonnummern wählen, Geschirr spülen, die Seiten eines Buchs umblättern, den Füller halten, Zähne putzen, sich die Haare trocknen, Handtücher falten, Geld aus dem Portemonnaie nehmen, Lebensmitteltüten tragen, die Dauerkarte über
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