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Winterjournal (German Edition)

Winterjournal (German Edition)

Titel: Winterjournal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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bringen, dass du selbst es warst, der die Dinge erlebt hat, an die du dich erinnerst. Mit siebzehn, zum Beispiel, auf einem Flug von Mailand nach New York (nach deiner ersten Auslandsreise, zu Besuch bei der Schwester deiner Mutter in Italien, wo sie seit elf Jahren lebte), sitzt du neben einem attraktiven, hochintelligenten Mädchen von achtzehn oder neunzehn Jahren, und nachdem ihr euch eine Stunde lang unterhalten habt, liegt ihr euch für den Rest der Reise in den Armen und knutscht ohne jede Spur von Scham oder Befangenheit wild vor den anderen Passagieren herum. Es scheint unmöglich, dass das passieren konnte, aber so war es. Noch seltsamer, am letzten Morgen deines Europatrips im Jahr darauf, der mit der Atlantiküberquerung auf dem Schülerschiff begann, bestiegst du am Shannon Airport in Irland ein Flugzeug und kamst abermals neben einem hübschen Mädchen zu sitzen. Nachdem ihr euch eine Stunde lang ernsthaft über Bücher, Colleges und eure Sommerabenteuer unterhalten hattet, fingt auch ihr zu knutschen an und kamt so mächtig in Fahrt, dass ihr schließlich eine Decke über euch zogt und du sie mit beiden Händen überall bis in ihren Rock hinein berührtest und ihr euren ganzen Willen aufbringen musstet, um nicht alle Grenzen zu überschreiten und es schlankweg miteinander zu treiben. Wie war es möglich, dass so etwas geschehen konnte? Sind die sexuellen Energien der Jugend so stark, dass die bloße Anwesenheit eines anderen Körpers als Anlass zum Sex dienen kann? Heute würdest du so etwas niemals mehr tun, nicht einmal den Gedanken daran würdest du wagen – aber du bist ja auch nicht mehr jung.
     
    Nein, du warst nie promiskuitiv, obwohl du manchmal wünschst, du hättest dir etwas mehr Freiheit und Spontaneität erlaubt; aber trotz deines zurückhaltenden Wesens hattest auch du ein paar heftige Begegnungen mit dem Bazillus der Intimität. Tripper. Den hattest du ein einziges Mal, mit zwanzig, und einmal war mehr als genug. Zäher grüner Schleim, der aus deinem Schwanz sickerte, ein Gefühl, als habe man dir eine Nadel in die Harnröhre gerammt, und etwas so Simples wie das Wasserlassen wurde zur Höllenqual. Du hast nie erfahren, bei wem du dir das eingefangen hast, die Zahl der möglichen Kandidatinnen war begrenzt, und keine von ihnen kam dir als Überträgerin dieser schrecklichen Plage wahrscheinlich vor. Fünf Jahre später wurdest du von Filzläusen befallen und bliebst gleichermaßen im Dunkeln. Diesmal keine Schmerzen, nur ein permanentes Jucken in der Schamgegend, und als du endlich mal hinsahst, um festzustellen, was da los war, erblicktest du zu deiner Verblüffung ein Bataillon winziger Krabben – sie sahen genauso aus wie Krabben im Meer, nur viel kleiner, nicht größer als Marienkäfer. Du wusstest von Geschlechtskrankheiten so wenig, dass du von dieser speziellen erst erfuhrst, als sie dich heimsuchte, du hattest keine Ahnung, dass so etwas wie Filzläuse überhaupt existierte. Gegen den Tripper hattest du Penicillin nehmen müssen, aber um das Ungeziefer loszuwerden, das in deinem Schamhaar nistete, genügte ein Puder. Also nichts Schlimmes, aus der Ferne betrachtet eher eine komische Angelegenheit, zugleich aber ein weiteres Rätsel, ein weiteres Geheimnis, das du nie hast lösen können, denn du hattest keinen Schimmer, wer oder was dir diese zwickenden Plagegeister auf den Leib geschickt hatte, ob es beim Geschlechtsverkehr passiert war, ob du mit einem schmutzigen Waschlappen oder Handtuch in Berührung gekommen warst oder dich auf der Toilette irgendeines Pariser Cafés oder Restaurants auf einem Schwarm mikroskopisch kleiner Eier niedergelassen hattest. Zu klein für das menschliche Auge, aber nicht weniger tückisch als die Heere unsichtbarer Mikroben, von denen Seuchen und Epidemien ausgehen, die ganze Länder und Zivilisationen niedermähen. Zum Glück waren die Viecher auf dir, nicht in dir, und nachdem sie ausgeschlüpft und herangewachsen waren, konntest du sie schließlich sehen – und ausrotten.
     
    Marienkäfer galten als Glücksbringer. Landete einer auf deinem Arm, solltest du dir, bevor er wieder wegflog, etwas wünschen. Auch vierblättrige Kleeblätter brachten Glück, und in deiner frühen Kindheit hast du unzählige Stunden lang auf Händen und Knien im Gras nach diesen kleinen Trophäen gesucht, die es wirklich gab, sich aber nur selten finden ließen und daher immer groß gefeiert wurden. Vom Frühling kündete das Erscheinen der ersten

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