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Winterjournal (German Edition)

Winterjournal (German Edition)

Titel: Winterjournal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Wanderdrossel, jenes braunen Vogels mit der roten Brust, der plötzlich und unerklärlich eines Morgens in eurem Garten auftauchte, im Gras umherhüpfte und nach Würmern grub. Danach hast du die Wanderdrosseln gezählt, die zweite, die dritte, die vierte notiert, deine Strichliste täglich erweitert, und wenn du zu zählen aufgehört hast, war es sommerlich warm. Im ersten Sommer nach eurem Umzug in die Irving Avenue ( 1952 ) legte deine Mutter hinterm Haus einen Garten an, und zwischen den Gruppen ein- und mehrjähriger Pflanzen im Lehmboden des Blumenbeets wuchs eine Sonnenblume wochenlang höher und höher, erst ging sie dir bis an die Knie, dann an die Hüfte, dann an die Schultern, wuchs dir über den Kopf hinaus und erreichte schließlich eine Höhe von gut zwei Metern. Die Entwicklung der Sonnenblume war das zentrale Ereignis des Sommers, ein erfrischendes Eintauchen in das geheimnisvolle Walten der Zeit, als du Morgen für Morgen in den Garten liefst, um dich mit oder an ihr zu messen und zu sehen, wie schnell sie dich einholte. Im selben Sommer hast du deinen ersten guten Freund gefunden, den ersten echten Kameraden deiner Kindheit, Billy, der nicht weit von euch wohnte, und da du als Einziger verstehen konntest, was er sagte (die Wörter schienen in seinem von Speichel überfließenden Mund zu versinken, bevor sie deutlich artikuliert hervorkommen konnten), war er auf dich als Dolmetscher für den Rest der Welt angewiesen, während du als eher furchtsamer Tom auf ihn als deinen unerschrockenen Huck angewiesen warst. Im Frühjahr darauf seid ihr jeden Nachmittag durchs Gebüsch gekrochen, immer auf der Suche nach toten Vögeln – meist waren es, wie dir jetzt klarwird, junge Vögel, die aus dem Nest gefallen waren und nicht mehr nach Hause zurückgefunden hatten. Die begrubt ihr in der Erde dicht an deinem Haus – mit einem sehr feierlichen Ritual, zu dem Gebete und Schweigeminuten gehörten. Ihr beide hattet den Tod entdeckt, und du wusstest, das war eine ernste Sache, etwas, worüber man keine Witze machen durfte.
     
    Der erste Tod eines Menschen, an den du dich deutlich erinnerst, trug sich 1957 zu, als deine achtzigjährige Großmutter von einem Herzinfarkt zu Boden gestreckt wurde und noch am selben Tag im Krankenhaus starb. An das Begräbnis kannst du dich nicht erinnern, was darauf hindeutet, dass du nicht mitgegangen bist, höchstwahrscheinlich, weil du zehn Jahre alt warst und deine Eltern dachten, du seist zu jung dafür. Du erinnerst dich aber an die Dunkelheit, die noch Tage danach das Haus erfüllte, an die Besucher, die mit deinem Vater im Wohnzimmer Schiwa saßen, fremde Männer, die mit leiser Stimme unverständliche hebräische Gebete vor sich hin murmelten, an die merkwürdig stille Unruhe dieses Geschehens, den Schmerz deines Vaters. Dich selbst hat dieser Tod nahezu vollkommen ungerührt gelassen. Du hattest keine Beziehung zu deiner Großmutter gehabt, von ihr war dir keine Liebe, kein Interesse an deiner Person, kein Funke Zuneigung entgegengekommen, und bei den wenigen Gelegenheiten, wo sie dich großmütterlich in die Arme genommen hatte, hattest du dich gefürchtet und nur gewünscht, dass sie dich loslassen möge. Der Mord von 1919 war damals noch Familiengeheimnis, davon erfuhrst du erst mit Anfang zwanzig, aber du hattest immer das Gefühl gehabt, deine Großmutter sei verrückt, diese kleine Einwandererfrau mit ihrem gebrochenen Englisch und ihren Wutausbrüchen sei jemand, von dem man sich fernhalten müsse. Und während also die Trauergäste kamen und gingen, bliebst du der zehnjährige Junge, der du warst, und als der Rabbiner dir am Abend eine Hand auf die Schulter legte und sagte, du könntest ruhig zu deinem Little-League-Spiel gehen, liefst du in dein Zimmer, zogst deine Baseballsachen an und ranntest aus dem Haus.
     
    Der Tod der Mutter deiner Mutter, elf Jahre später, war schon eine andere Geschichte. Jetzt warst du erwachsen, der Blitz, der deinen Freund getötet hatte, als du vierzehn warst, hatte dich gelehrt, dass die Welt unberechenbar und unsicher war, dass die Zukunft uns jederzeit gestohlen werden kann, dass der Himmel voller Blitze ist, die jederzeit niederfahren und Junge genauso gut wie Alte erschlagen können, und immer, immer schlägt der Blitz ein, wenn wir am wenigsten damit rechnen. Diesmal traf es die Großmutter, die du gernhattest, die spröde, stets ein wenig nervöse Frau, die du liebtest, die Frau, die oft bei dir war, ein fester Teil deines

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