Winterjournal (German Edition)
Schreien Luft machte, in den erstickten, aufgestauten Schreien einer hilflosen, bewegungsunfähigen Person, die darum kämpft, nicht im Sumpf ihres eigenen Speichels ertrinken zu müssen. 1895 in Minsk geboren. 1968 in New York gestorben.
Das Ende des Lebens ist bitter
(Joseph Joubert, 1814 ).
Die Dinge waren, wie sie waren, und du hast sie nie in Frage gestellt. In deiner Stadt gab es staatliche Schulen und katholische Schulen, und da du nicht katholisch warst, besuchtest du staatliche Schulen, die als gute Schulen galten, jedenfalls nach den Maßstäben, nach denen so etwas damals beurteilt wurde, und wie deine Mutter es später dargestellt hat, seid ihr nur aus diesem Grund einige Monate vor deiner Einschulung in die Irving Avenue umgezogen. Du hast keine Vergleichsmöglichkeiten, aber in den dreizehn Jahren, die du in diesem System verbrachtest, die ersten sieben an der Marshall School, die nächsten drei an der South Orange Junior High School und die letzten drei an der Columbia High School in Maplewood, hattest du einige gute Lehrer und einige mittelmäßige Lehrer, eine Handvoll außerordentlicher und inspirierender Lehrer und eine Handvoll miserabler und inkompetenter Lehrer, und deine Mitschüler deckten das gesamte Spektrum von hochintelligent über durchschnittlich bis halb schwachsinnig ab. Dies ist an allen staatlichen Schulen der Fall. Jeder, der in dem Bezirk lebt, kann sie kostenlos besuchen, und weil du in einer Zeit aufgewachsen bist, in der es noch keine Sonderschulen gab, auf die man dann Kinder mit sogenannten Problemen schickte, hattest du auch einige körperlich behinderte Klassenkameraden. Niemand im Rollstuhl, soweit du dich erinnerst, aber du siehst noch immer den buckligen Jungen mit dem verrenkten Körper vor dir, das Mädchen, dem ein Arm fehlte (ein fingerloser Stummel ragte aus ihrer Schulter), den Jungen, der sich immer das Hemd vollsabberte, und das Mädchen, das kaum größer war als ein Zwerg. In der Rückschau hast du das Gefühl, dass diese Menschen ein wesentlicher Teil deiner Erziehung waren, dass du ohne sie nur ein lückenhaftes Verständnis hättest von dem, was es heißt, ein Mensch zu sein, dass es dir an Tiefe und Mitgefühl, an jeglicher Einsicht in die Metaphysik von Schmerz und Unglück fehlen würde, denn diese Kinder waren die Heldenhaften, sie waren es, die sich zehnmal so viel anstrengen mussten wie alle anderen, um einen Platz für sich zu finden. Hättest du ausschließlich unter körperlich Gesunden gelebt, unter Kindern wie du selbst, die ihren wohlgeformten Körper für etwas Selbstverständliches hielten, wie hättest du jemals lernen können, was Heldentum ausmacht? Einer deiner Freunde in diesen frühen Jahren war ein dicker, unsportlicher Junge mit Brille und einem schlichten, irgendwie verhuschten Gesicht, dennoch sehr beliebt bei den anderen Jungen wegen seines Humors, seines scharfen Verstands, seiner Mathefähigkeiten und seiner, wie es dir damals vorkam, ungewöhnlich großzügigen Einstellung. Er hatte einen bettlägerigen kleinen Bruder, der an einer Krankheit litt, die sein Wachstum behinderte und seine Knochen spröde machte, Knochen, die einfach so brechen konnten, und du kannst dich erinnern, du hast deinen Freund mehrmals nach der Schule zu Hause besucht und dabei auch bei seinem Bruder hineingeschaut, der nur ein oder zwei Jahre jünger war als du, und da lag er mit seinem großen Kopf in einem Krankenhausbett, unvorstellbar blass, fixiert mit Rollen und Drähten, die Beine in Gips, und du bekamst in diesem Zimmer kaum den Mund auf, du warst nervös, vielleicht ein bisschen verängstigt, dabei war der Bruder ein nettes Kind, freundlich und umgänglich und klug, und du hast es immer absurd, geradezu empörend gefunden, dass er in diesem Bett liegen musste, und dich bei jedem deiner Besuche gefragt, welcher idiotische Gott dafür verantwortlich war, dass er, und nicht du, in diesen Körper eingesperrt sein sollte. Dein Freund liebte seinen Bruder sehr, die beiden waren einander mindestens so nahe wie alle anderen Bruderpaare, die du je gekannt hast, und sie bewohnten eine eigene Welt, ein geheimes Universum, und hier galt einzig und allein ihre Besessenheit von einem Phantasie-Baseballspiel, das sie immerzu spielten, ein Brettspiel mit Würfeln, Karten, komplizierten Regeln und ausgeklügelten Statistiken; über alle Spiele wurde sorgfältig Buch geführt, sodass sich ganze Saisons daraus ergaben, alle ein oder zwei Monate eine neue Saison,
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