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Winterjournal (German Edition)

Winterjournal (German Edition)

Titel: Winterjournal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Lebens, und wenn du heute an ihren Tod denkst, wie sie gestorben ist, langsam und schrecklich und quälend mit anzusehen, wird dir bewusst, dass auch alle anderen Todesfälle in deiner Familie plötzlich eingetreten sind, eine Serie von Blitzen ähnlich dem, der deinen Freund erschlug: die Mutter deines Vaters (Herzinfarkt, tot binnen Stunden), der Vater deines Vaters (erschossen, bevor du ihn kennenlernen konntest), dein Vater (Herzinfarkt, tot binnen Sekunden), deine Mutter (Herzinfarkt, tot binnen Minuten), und im Prinzip auch der Vater deiner Mutter, dessen Tod nicht plötzlich eintrat, der bei guter Gesundheit fünfundachtzig wurde und nach raschem Verfall binnen zwei oder drei Wochen an Lungenentzündung starb, also eigentlich an Altersschwäche – ein beneidenswerter Tod, findest du, ein erfülltes Leben bis ins neunte Jahrzehnt, und dann keine Hinrichtung durch Blitzschlag, sondern die Chance, sich darein zu schicken, dass man die Welt verlassen wird, die Chance, ein wenig nachzudenken, und schließlich einzuschlafen und ins Nichts zu entschweben. Deine Großmutter entschwebte nirgendwohin. Zwei Jahre lang wurde sie über ein Nagelbrett geschleift, und als sie mit dreiundsiebzig starb, war nicht mehr viel von ihr übrig. Amyotrophe Lateralsklerose, auch unter dem Namen Lou-Gehrig-Syndrom bekannt. Du hast den körperlichen Verfall von Leuten mit angesehen, die vom Autokannibalismus eines bösartigen Krebsgeschwürs zerfressen wurden, hast den langsamen Erstickungstod von Leuten miterlebt, die an einem Lungenemphysem litten, aber ALS ist nicht weniger verheerend oder grausam, und für den, bei dem es diagnostiziert wurde, gibt es keine Hoffnung, kein Heilmittel, nichts als die Aussicht auf einen langen Marsch in Richtung Verfall und Tod. Die Knochen schmelzen. Das Skelett wird weich wie Wachs, und die Organe versagen eins nach dem anderen. Die Erkrankung deiner Großmutter war besonders schwer erträglich, weil die ersten Symptome in ihrem Hals auftraten und daher die Sprachfunktionen vor allen anderen beeinträchtigt wurden: Kehlkopf, Zunge, Speiseröhre. Eines Tages, aus heiterem Himmel, bekam sie Schwierigkeiten, ihre Worte klar zu artikulieren, einzelne Silben klangen wie verwaschen, ein wenig undeutlich. Ein, zwei Monate später schon beunruhigend undeutlich. Wiederum einige Monate später vollends unverständliche Sätze voller Schleimgerassel und ersticktem Gurgeln, und als die Schmach der Beeinträchtigung unerträglich wurde und kein Arzt in New York sich erklären konnte, was mit ihr nicht stimmte, brachte deine Mutter sie zur gründlichen Untersuchung in die Mayo-Klinik. Die Männer in Minnesota waren es, die das Todesurteil verkündeten, und bald konnte sie gar nicht mehr sprechen. Jetzt war sie gezwungen, schriftlich zu kommunizieren und immer Bleistift und Notizblock bei sich zu tragen, sonst aber schien ihr nichts zu fehlen, sie konnte noch gehen, noch am Leben teilnehmen, aber ihre Halsmuskulatur zehrte weiter aus, und nach einigen Monaten bekam sie Schwierigkeiten beim Schlucken, Essen und Trinken wurden zu einer einzigen Strapaze, und am Ende begann auch der Rest ihres Körpers sie im Stich zu lassen. Während der ersten ein, zwei Wochen im Krankenhaus konnte sie ihre Arme und Hände noch gebrauchen, konnte noch Bleistift und Papier benutzen, um sich mitzuteilen, auch wenn ihre Schrift sich sehr verschlechtert hatte, dann kam sie unter die Aufsicht einer privaten Pflegerin, Miss Moran (klein und tüchtig, ihr Gesicht zu einer ewig fröhlichen Miene erstarrt), die nicht mehr zuließ, dass deine Großmutter Bleistift und Papier benutzte, und je heftiger deine Großmutter dagegen protestierte, desto länger wurde ihr das Papier vorenthalten. Als du und deine Mutter davon Wind bekamen, wurde Moran gefeuert, aber der Kampf deiner Großmutter mit dieser sadistischen Pflegerin hatte sie die letzten Kräfte gekostet. Die freundliche, unaufdringliche Frau, die dir, wenn du krank warst, Erzählungen von Maupassant vorgelesen hatte, die dich zu Veranstaltungen in die Radio City Music Hall mitgenommen hatte, die dir bei Schrafft’s Eisbecher und Mittagessen spendiert hatte, begab sich zum Sterben in das Doctor’s Hospital an der Upper East Side von Manhattan, und als sie so schwach geworden war, dass sie den Bleistift nicht mehr halten konnte, verlor sie den Verstand. Zorn war alles, was ihr jetzt noch geblieben war, eine irrsinnige Wut, die sie ganz fremd erscheinen ließ und sich in unaufhörlichen

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