Winterkill
»Havelka.«
»Lieutenant Havelka vom Chicago Police Department?«, meldete sich eine männliche Stimme. Und als sie bejahte: »Officer John Redbull von der Stammespolizei in Grand Portage, Minnesota. Ihr Kollege sagte, wir sollten Ihnen heute noch Meldung machen, wenn wir bei den Eltern von Miss Morgan waren.«
»Und?«, fragte sie.
»Sie waren wütend«, antwortete der Polizist, »und traurig. Mrs Morgan rannte ins Bad und schnitt sich die Haare ab, ein Zeichen großer Trauer bei unseren Vorfahren. Und Willie, Mister Morgan, er schlug mit der Faust auf den Tisch und sagte, es sei alles Niskigwuns Schuld. Ein alter Mann, der als Aushilfe in der Küche des Casinos arbeitet. So traditionell und konservativ, dass er den Namen eines bekannten Häuptlings, der vor über hundert Jahren lebte, angenommen hat. Am liebsten würde er alle Weißen aus dem Land jagen. Man sagt, dass er jedem, der gegen die alten Lehren unseres Volkes verstößt und wie die Weißen lebt, den Wendigo an den Hals wünscht.«
»Wendigo?«, fragte sie.
»Ein Monster, mit dem Mütter früher ihre Kinder erschreckten. Er fällt über die Menschen her, dessen Namen er flüstert, und treibt sie in den Tod. So eine Art Yeti mit glühenden Augen und einem Herz aus Eis. Die jungen Leute glauben nicht mehr an so was, nicht mal alle älteren, aber Niskigwun behauptet, der Wendigo würde jene Anishinabe, die sich gegen die alten Lehren stellen, auf grausame Weise töten.«
»Sie wollen mir doch nicht weismachen, der Wendigo oder wie immer dieses verdammte Ungeheuer heißt, habe Candy Morgan vom Dach gestoßen?«
»Nein, Lieutenant, aber Sie wollten wissen, wie die Eltern der Toten reagiert haben. Sie glauben, dass Niskigwun sie mit seinem Fluch getötet hat.«
»Hatte sie außer diesem Niskigwun noch andere Feinde?«, hakte Havelka nach. »Gibt es irgendjemand, der von ihrem Tod profitiert? Hatte sie Probleme? Könnte sie Selbstmord begangen haben? Was sagen die Eltern dazu?«
»Nicht viel«, erwiderte Officer Redbull. »Mrs Morgan behauptet, ihre Tochter würde niemals Selbstmord begehen. Es widerspricht unserem Glauben. Sie kann sich aber auch nicht vorstellen, dass man ihre Tochter ermordet hat. Es sei denn, der Wendigo hat sie in den Tod getrieben. Ich weiß, das klingt seltsam.«
»Das kann man wohl sagen.« Sie gehörte nicht zu den Frauen, die an Hexenmeister und Hokuspokus glaubten. Sie hatte nicht mal »Harry Potter« gelesen, und Horoskope überflog sie nicht mal. »Warum sollte Nis… wie immer er heißt, warum sollte er dieses Ungeheuer auf sie hetzen? Hat sie gegen die alten Lehren verstoßen?«
»Sie hat ihre Eltern verlassen und ist nach Chicago gegangen«, erwiderte er. »Für Niskigwun ist das ein Verbrechen. Sie schläft mit Männern, obwohl sie nicht verheiratet ist, sie trinkt Alkohol und, keine Ahnung, vielleicht nimmt sie sogar Drogen. Niskigwun fährt schon aus der Haut, wenn einer ein Bier trinkt oder ein Mädchen küsst, bevor die beiden verheiratet sind. Auch bei uns gibt es radikale Stinkstiefel, Lieutenant.«
»Gibt es Anzeichen dafür, dass sie Drogen nimmt, Officer?«, fragte sie.
»Das müssten Sie besser wissen. Nicht, als sie im Reservat lebte, sagen ihre Eltern. Aber das ist schon ein paar Jahre her. Fünf Jahre, um genau zu sein. Sie war auf dem College in Duluth und arbeitete jetzt alsKrankenschwester. Mehr weiß ich leider nicht.« Er legte eine kurze Pause ein. »Der Detective sagte mir, alle Anzeichen sprächen für Selbstmord. Wieso sind Sie so an diesem Fall interessiert, Lieutenant?«
Sie überlegte eine Weile. »Das weiß ich auch nicht, Officer. Vielen Dank.«
Sarah stürzte in die Büsche vor dem Haus, wurde von den schneebedeckten Ästen wie von riesigen Händen aufgefangen, stöhnte vor Schmerz, als einer der Äste eine blutige Schramme in ihre Wange riss, und landete ächzend auf dem harten Boden. In einer Wolke aus aufgewirbeltem Schnee blieb sie liegen.
Für einen Moment war sie unfähig, sich zu bewegen oder klar zu denken. Erst nach einer Schrecksekunde wurde ihr klar, welches Glück sie gehabt hatte. Sie bewegte ihre Arme und Beine, tastete ihren Körper ab und atmete erleichtert auf. Außer dem Kratzer im Gesicht und einer Prellung an der linken Hüfte hatte sie kaum etwas abbekommen.
Benommen stemmte sie sich vom Boden hoch. Ihr Kopf brummte, obwohl sie relativ weich gefallen war, und vor ihren Augen drehte es sich. Sie stolperte ein paar Schritte nach vorn und hielt sich an einem Ast
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