Winterkill
darum, Father. Sagen Sie niemand, dass sie angerufen hat. Niemand, hören Sie? Auch nicht Leuten, denen sie vertrauen. Es darf keiner erfahren, dass sie sich gemeldet hat. Geben Sie mir sofort Bescheid, falls sie noch mal anruft, okay?«
Er versprach es und legte auf. Die Gewissheit, das FBI informiert zu haben, beruhigte ihn nur wenig, konnte seine Angst und Nervosität kaum vertreiben. Bis jemand vom FBI oder ein US Marshal bei Sarah war, würde einige Zeit vergehen. Wenn sie von einem professionellen Killer verfolgt wurde, konnte es dann schon zu spät sein. So angsterfüllt, wie sie geklungen hatte, waren sie ihr dicht auf den Fersen. Oder bildete sie sich alles nur ein? Verlor man irgendwann die Nerven, wenn man gezwungen war, den größten Teil seines Lebens zu vergessen?
Und was sollte dieses Gerede vom Wendigo? Das Ungeheuer gehörte in die Legenden ihrer Vorfahren. Mit solchen Fabelwesen setzten sich vernünftige Menschen wie Sarah nicht auseinander. Oder litt das arme Mädchen in der Fremde plötzlich unter Wahnvorstellungen? Hatte ihr der plötzliche Verlust der Heimat noch mehr zugesetzt, als alle befürchtet hatten?
Um auf andere Gedanken zu kommen, starrte er auf den Monitor seines Computers. Er hatte gerade den ersten Absatz seines Berichtes für seinen Vorgesetzten getippt. Eine Arbeit, die seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, weil es ihm immer schwerer fiel, die Ausgaben seiner Mission zu begründen. Wie sollte er dem Provinzial auch plausibel machen, dass sich die Kirche an der Ausrüstung für das neue Baseball-Team beteiligen musste, wenndas Missionskonto die meiste Zeit in den roten Zahlen war?
Verwirrt schloss er die Datei und fuhr den Computer herunter. Der Bildschirm verblasste, bis nur noch das Leuchten seiner Schreibtischlampe den Raum erhellte. Er stand auf und trat ans Fenster. Er war versucht seine Pfeife hervorzukramen, wie er es immer tat, wenn er nervös war oder nachdachte, ahnte aber, dass seine Hände viel zu unruhig waren, um sie ordentlich zu stopfen. Mal davon abgesehen, dass Amanda immer ungehalten wurde, wenn sie Tabak roch. Ein nachsichtiges Lächeln erhellte seine Züge, als er an die übertriebene Fürsorge seiner Haushälterin dachte. Sie war besorgter um ihn, als es seine Mutter gewesen war.
Er schob den Vorhang zur Seite und blickte in den Hof hinaus. Es schneite schon seit dem frühen Abend. Eine dicke Schneeschicht bedeckte das Dach der angrenzenden Kirche und des Versammlungshauses. Den Hof hatte der Schneepflug aus Grand Portage geräumt. Die Straßenlampe neben der Einfahrt verbreitete trüben Schein und erinnerte ihn daran, dass er die Lampen vor der Kirche und dem Versammlungshaus noch nicht repariert hatte.
Der Anblick seines Ford Bronco, der unter der Schneehaube kaum noch zu erkennen war, brachte ihn dazu, sein beheiztes Büro zu verlassen. Im Flur zog er seinen grauen Anorak, die Mütze mit den gefütterten Ohrenklappen und seine Winterstiefel an. Als er den Autoschlüssel vom Haken nahm, erschien die Haushälterin in der Tür.
»Sie wollen noch mal los, Father?«
»Ein Gemeindemitglied braucht meinen Beistand«, erwiderte er. »Machen Sie sich keine Sorgen, Amanda. Nach zehn Jahren in dieser Wildnis bin ich solches Wetter gewöhnt. In spätestens zwei oder drei Stunden bin ich zurück.«
Er ging nach draußen, bevor sie etwas einwenden konnte, und senkte im dichten Schneetreiben den Kopf. Natürlich hatte er gelogen. Wenn man aus New Mexico kam, gewöhnte man sich niemals an solche strengen Winter. Gott würde ihm die kleine Notlüge verzeihen, hoffte er. Es war bestimmt auch nicht in seinem Interesse, die besorgte Haushälterin unnötig zu ängstigen.
Nachdem er fast eine Viertelstunde damit verbracht hatte, seinen Ford Bronco vom Schnee zu befreien, stieg er ein. Die Heizung blies auf vollen Touren, als er den Wagen vom Hof steuerte und über den verschneiten Highway 17 nach Westen fuhr. Nur mühsam durchdrangen die Scheinwerfer das Unwetter. Im niedrigen Geländegang blieb er auch mit seinen abgefahrenen Winterreifen in der Spur.
Kurz nach zwanzig Uhr, las er von der erleuchteten Uhr am Armaturenbrett ab. Noch nicht zu spät, um den Standing Clouds einen Besuch abzustatten. Father Paul war froh, als die Straße in den Wald bog. Zwischen den Bäumen schneite es nicht so stark und er kam besser voran. Er würde den Standing Clouds nicht verraten, dass ihre Tochter angerufen hatte, natürlich nicht, aber die Sorge, die Verfolger von Sarah
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