Winterkill
schon oben, als sie den Zug kommen hörte. Ratternd fuhr er auf dem Bahnsteig ein. Die silbernen Wagen glänzten im fahlen Licht.
Sie erreichte das Ende der Treppe und wandte sich sofort nach rechts. An der blauen Sicherheitszone entlang rannte sie zur Spitze des Zuges. Der Schnee, den die einfahrenden Wagen unter das Bahnsteigdach wirbelten, hüllte sie wie ein feuchter Schleier ein.
Mit zischenden Bremsen kamen die Wagen zum Stehen. Sie rannte gegen einen aussteigenden Mann, entschuldigte sich und blickte sich hastig um. Der Killer stürmte keine zwanzig Schritte hinter ihr auf den Bahnsteig. Sie lief bis zum dritten Wagen vor, stieg ein und schickte ein Stoßgebet zum Himmel. »Bitte, bitte, mach die Tür zu, bevor er mich eingeholt hat! Wenn er es in den Wagen schafft, bin ich verloren!«
Die Türen schlossen sich zischend. Sie ließ sich erleichtert auf eine Sitzbank fallen und hatte schon Tränen der Erleichterung in den Augen, doch dann blickte sie in den Nachbarwagen und sah ihn an einem der vorderen Fenster stehen. Ein zufriedenes Lächeln spielte um seine Lippen,und sie glaubte sogar die Worte zu erkennen, die seine Lippen formten: »Jetzt haben wir dich endlich!«
4
Father Paul legte entsetzt den Hörer auf und bekreuzigte sich. »Sarah Standing Cloud«, flüsterte er. Vor Schreck war er sekundenlang unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Stimme aus der Vergangenheit hatte ihn gelähmt, ließ ihn regungslos hinter seinem Schreibtisch verharren und ins Leere starren. »Sarah … mein Gott, Sarah!«
Sarah Standing Cloud war nach dem College ins Reservat zurückgekommen und hatte sich für einen Job im Museum beworben. Eine engagierte, gebildete und an der Geschichte und Kultur ihres Volkes interessierte junge Frau, so jemand war selten hier. Die meisten jungen Leute wollten raus aus dem Reservat, nach Duluth oder in die Twin Cities, um Geld zu verdienen. Wer im Reservat blieb, verfiel oft dem Alkohol oder den Drogen oder, seit es das Casino gab, auch der Spielsucht. Einige dieser jungen Männer und Frauen kamen nach St. Stephens in seine Sprechstunde oder nahmen an den Programmen der Mission teil. Einige, bei Weitem nicht alle.
Sarah hatte es im Reservat zu etwas bringen wollen und hätte die Stellung im Museum sicher bekommen. Und sobald Mary in Rente gegangen wäre, hätte man ihr den Posten der Kuratorin angeboten, daran bestand kein Zweifel. Sie war die Idealbesetzung. Dann war der Mord passiert und Sarah hatte für immer aus ihrer Heimat verschwinden müssen. Selbst er hatte nicht gewusst, wo sie abgeblieben war. Während der letzten Jahre hatte sie nicht angerufen,keinen Brief, keine Karte, keine E-Mail geschickt. So hatten sie es vereinbart.
Er löste sich langsam aus seiner Erstarrung. Wenn sie verfolgt wurde, war sie in höchster Gefahr. Sie hatte gehetzt geklungen, als wäre sie auf der Flucht. Waren sie wirklich hinter ihr her? Diese Großkonzerne kannten keine Skrupel, man brauchte sich nur die Nachrichten anzusehen oder in der Zeitung zu blättern. Sie scheuten nicht einmal davor zurück, einen Killer auf unschuldige Leute zu hetzen. Das FBI hatte ihm versichert, dass man Sarah nicht finden würde, nicht einmal die Mafia würde das schaffen, hatten sie gesagt, und jetzt war das Unmögliche anscheinend doch passiert. Sie waren ihr auf den Fersen. Sie wollten das Mädchen ermorden, sich dafür rächen, dass es ausgesagt hatte. Für Father Paul war sie immer noch ein Mädchen. Er kannte sie, seitdem man sie beim Pow-Wow vor zehn Jahren zur besten Junior-Tänzerin gewählt hatte.
Er griff zum Hörer und ließ sich von der Auskunft mit dem FBI-Office in Duluth verbinden. »FBI Regional Office Duluth«, meldete sich eine weibliche Stimme, »Special Agent Rhonda Scott.«
»Father Paul Brennan von der St. Stephens Mission in Grand Portage«, meldete er sich. »Ich habe gerade einen Anruf von Sarah Standing Cloud bekommen. Sie erinnern sich an sie?«
»Natürlich, was ist mit ihr?«, fragte sie.
Er berichtete, was Sarah gesagt hatte, und fügte hinzu: »Es klang sehr ernst, Agent. Sie hatte, glaube ich, große Angst. Leider wurden wir unterbrochen. Ich hoffe, ihr ist nichts passiert.«
»Von wo hat sie angerufen?«
»Keine Ahnung. Sie rief von einem Handy an. Sie kennen doch sicher ihre Nummer. Es hörte sich wirklichdringend an, Agent. Ich kenne Sarah. Sie hätte bestimmt nicht angerufen, wenn es um eine Lappalie ginge. Sie müssen sofort etwas unternehmen.«
»Wir kümmern uns
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