Winterkill
verzweifelten Menschen zu tun und wusste, wie er mit ihnen umgehen musste. »Ziemliches Sauwetter heute, was?«, empfing er sie. »Wie können wir Ihnen helfen, Miss?«
»Kann ich mal telefonieren?«, fragte sie, immer noch außer Atem. »Ich hab mein Handy verloren und muss dringend jemand anrufen.« Sie deutete auf das Telefon hinter der Rezeption. »Darf ich? Mein Geld hab ich auch verloren.«
»Sie haben Ihre Handtasche verloren? Man hat sie Ihnen nicht gestohlen? Sie können Anzeige erstatten, falls man sie Ihnen weggenommen hat, auch wenn Sie den Dieb nicht erkannt haben. Liegt Ihr Führerschein in der Tasche? Irgendein anderer Ausweis?«
»Mein Führerschein«, erwiderte Sarah. Der Officer hatte anscheinend so seine Erfahrungen mit jungen Frauen, die man bestohlen hatte. »Aber man hat sie mir nicht gestohlen, ehrlich. Ich möchte nur jemand anrufen.« Sie versuchte zu lächeln, was ihr nach den Ereignissen der letzten Stunden nicht gerade leichtfiel. »Ich brauche nicht lange, Officer.«
Der Polizist war ein erfahrener Mann und ließ sich nicht so leicht irritieren. »Okay«, willigte er ein. Er reichte ihr den Telefonhörer. »Die Nummer?«
Sarah blieb nichts anderes übrig, als ihm die Nummer zu nennen. Er ließ nicht erkennen, ob sie ihm bekannt vorkam. Nachdem er sie eingegeben hatte, lehnte er sich auf seinem Drehstuhl zurück. Er dachte gar nicht daran, sieallein zu lassen, und sie konnte sich nicht mal ein paar Schritte entfernen, weil der Hörer an einer Schnur hing.
Im Hörer knackte es. Anscheinend wurde ihr Anruf auf ein Handy weitergeleitet. »US Marshal O’Keefe«, meldete sich die vertraute Stimme. »Ja bitte?«
»Sarah«, meldete sie sich nach kurzem Zögern. Sie tauschte einen raschen Blick mit dem Officer. »Sarah Anderson. Sie erinnern sich an mich?«
»Sarah! Was ist passiert?«, erwiderte O’Keefe aufgeregt. Anscheinend hatte sie auf ihren Anruf gewartet. »Wo sind Sie? Warum haben Sie im Reservat angerufen? Antworten Sie doch, Sarah!«
»Woher … woher wissen Sie …?«
»Das tut jetzt nichts zur Sache«, fiel sie ihr ins Wort. »Sie sind in Gefahr, nicht wahr? Sagen Sie mir, wo Sie sind, dann bringen wir Sie in Sicherheit.«
Sarah blickte zu Boden und versuchte so leise wie möglich zu sprechen. »Bei der Polizei. 18th District. In der …«
»Ich weiß, wo das ist. Ist ein Detective in der Nähe? Oder ein Officer?«
»Ein Officer«, antwortete sie. »Ich bin an der Rezeption.«
»Geben Sie ihn mir.«
Sarah reichte den Hörer an den Officer hinter der Rezeption weiter. Der griff verwundert danach und hielt ihn so, dass sie jedes Wort verstand. Zu ihrer Verwunderung erklang die Stimme einer anderen Frau: »Officer McDusky? Sind Sie das?« Und als er bejahte: »Lieutenant Havelka. Lassen Sie die junge Dame in meinem Zimmer warten. Sie ist eine wichtige …« Sie schien nach dem treffenden Ausdruck zu suchen. »… eine wichtige Zeugin. Und lassen Sie niemand zu ihr, egal was man Ihnen erzählt. Haben Sie mich verstanden?«
»Geht in Ordnung, Lieutenant.«
»Ich verlasse mich auf Sie. Ich bin in spätestens einer halben Stunde bei Ihnen. Niemand darf zu ihr, niemand!«
Der Officer legte sichtlich verstört auf und wandte sich an Sarah: »Sie haben es mitbekommen, oder? Ich soll Sie im Allerheiligsten warten lassen.« Ein leichtes Grinsen spielte um seine Lippen. »So nennen wir das Büro von Lieutenant Havelka. Sie ist unser Boss.« Er kam hinter seiner Rezeption hervor und führte sie einen langen Flur hinunter. Als sie an einem Kaffeeautomaten vorbeikamen, sagte er: »Möchten Sie einen Kaffee oder eine heiße Schokolade?«
»Ein Kaffee wäre nicht übel«, erwiderte sie dankbar. Sie hatte sich etwas erholt und fühlte sich wieder einigermaßen sicher. Eine bessere Zuflucht als ein Polizeirevier gab es nicht. »Mit Milch und Zucker.« Vanille gab es hier sicher nicht. »Ich hab aber keinen Cent dabei.«
»Geht auf Kosten des Hauses«, versprach der Officer und ließ einen Kaffee aus dem Automaten. Er reichte ihr den Plastikbecher. »Dagegen ist das Zeug bei Starbucks nur eine dünne Brühe.«
Das war zwar gelogen, machte ihr aber wenig aus. Hauptsache, sie bekam nach der Flucht durch die klirrende Kälte etwas Warmes in den Bauch. Sie bedankte sich und folgte dem Officer ins Büro seiner Vorgesetzten, einen quadratischen Raum im hintersten Eck des Gebäudes. Er knipste das Licht an. In der Mitte des Raumes stand ein Schreibtisch, dahinter erhob sich ein
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