Winterkill
Metallregal, voll mit Akten. Neben einem der beiden Fenster hingen einige eingerahmte Auszeichnungen und Urkunden an der Wand. Ein Foto zeigte einen weiblichen Polizeioffizier, wahrscheinlich Lieutenant Karen Havelka, in der Paradeuniform mit dem Bürgermeister.
Der Officer deutete auf den Besucherstuhl. »Es dauert nicht lange«, sagte er. »Ich bringe Ihnen was zum Lesen.«
Er brachte ihr eine Sportzeitschrift, sagte »Was anderes haben wir leider nicht, sind fast alles Männer«, und verschwand. Sie blätterte nicht mal darin.
Es reichte ihr, sich auf dem etwas unbequemen Stuhl zurückzulehnen und von der anstrengenden Flucht zu erholen. Der Kaffee schmeckte bitterer als die Brühe, die Carol gekocht hatte, munterte sie aber wenigstens ein bisschen auf. Sie hatte es geschafft. Sie war den Killern entkommen. Sie brauchte keine Angst mehr zu haben. Die US Marshals und das FBI würden sich um sie kümmern. Sie würden ihr eine neue Identität beschaffen, die selbst die Mafia nicht enttarnen konnte.
So war es am sichersten, und doch fühlte sie sich einsam und bedrückt. Schon beim ersten Mal vor zwei Jahren war es ihr schwergefallen, Verwandte und Freunde, vor allem aber auch ihre Heimat zurückzulassen. Einer Indianerin bedeutete die Heimat, das Land ihrer Herkunft, weit mehr als einer Weißen. Die Gewissheit, nicht mehr ins Reservat nach Grand Portage zurückkehren zu können, bereitete ihr beinahe körperliche Schmerzen. Jetzt würde sie noch einmal den Wohnort wechseln und eine gute Freundin wie Sophie Pirker verlassen müssen. Man würde Sophie irgendein Märchen erzählen, dass sie verunglückt oder aus geheimnisvollen Gründen verschwunden war, und Sarah würde nie die Gelegenheit bekommen, ihr die Wahrheit zu sagen. Nicht mal die Ausstellung im Museum würde sie weiter vorbereiten können. Vielleicht kam das FBI sogar auf die Idee, sie nach England oder Australien zu schicken, auch dort gab es Indianermuseen. Ein Gedanke, der sie noch mehr erschreckte. Sie wollte nicht aus Amerika weg, sie wollte bleiben.
Sarah glaubte inzwischen zu wissen, woher US Marshal O’Keefe wusste, dass sie in Gefahr war. Father Paul hatte das FBI angerufen. Anders konnte es gar nicht sein. Er machte sich Sorgen um sie und hatte die Bundesbehörde alarmiert. Er war ein guter Mann. Der beste Freund, den die Anishinabe im Reservat hatten, obwohl viele das nicht wussten. Ihn interessierten weder Geld noch Ruhm, er war ein wahrer Krieger.
Sie legte die Zeitschrift, die sie auf den Knien gehabt hatte, auf den Aktenberg und betrachte das gerahmte Foto neben dem Computer. Ein älterer Mann um die fünfzig, sauber gescheiteltes Haar, graue Augen, energisches Kinn. Havelkas Ehemann, nahm sie an. So wie er aussah, auch ein Polizist oder ein ehemaliger Offizier. Irgendetwas Amtliches, hätte sie wetten mögen.
Schon halb zehn, sah sie auf der Digitaluhr neben dem Foto. In diesem Büro machte es keinen Unterschied, ob Tag oder Nacht war, die Fenster waren geschlossen, die Jalousien heruntergezogen. Das Unwetter konnte man nur hören. Klagend und seufzend heulte der Wind um das Haus, und immer wenn Schnee vom Vorbaudach rutschte, war ein lautes Klatschen zu hören. Die Heizung lief auf vollen Touren und vertrieb die Kälte, die sich durch die undichten Fenster und die schlecht isolierten Wände stahl.
Sie stand auf und ging zum Fenster, durch einen Spalt in der Jalousie blickte sie nach draußen. Sie musste ihre Nase gegen das kalte Glas pressen, um etwas sehen zu können. Hinter dem Haus lag der Parkplatz. Etliche Streifenwagen glänzten im fahlen Licht der wenigen Lampen. Zwei Männer in winterfester Kleidung schaufelten den Schnee beiseite. Keine Spur von den Killern. Sie trat ein wenig nach links, um bis zur Straße vor sehen zu können, auch dort kein Geländewagen und keine verdächtigen Männer.Wahrscheinlich fürchteten sie die Nähe eines Polizeireviers wie der Teufel das Weihwasser.
Ob die Männer wussten, wo sie sich aufhielt? Ob sie auf sie warteten? Oder hatten sie inzwischen aufgegeben? Würden sie jemals für ihre Missetaten bezahlen müssen? Sie hatten Carol brutal zusammengeschlagen, ihr wahrscheinlich die Nase gebrochen. Und alles nur meinetwegen, dachte Sarah. Sie hoffte nur, dass der Nachbar mit dem Hund einen Krankenwagen gerufen und sie die nötige Pflege bekommen hatte. Nur weil Carol dichtgehalten hatte, war sie noch am Leben. Sie würde sich mit einem großen Blumenstrauß bei ihr bedanken und wenn sie US
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