Winterkill
Marshal O’Keefe bitten musste, ihr die Blumen anonym zu schicken.
Aus dem Flur drangen Stimmen herein. Ein Mann und eine Frau, wahrscheinlich Detectives, die nicht wussten, dass sie in Lieutenant Havelkas Büro saß, sonst hätten sie sich nicht so ungeniert unterhalten. Sie blieben vor der Tür stehen. Ihre Schatten fielen durch die halb geöffnete Tür ins Büro.
»Hey, Will«, sagte die Frau. »Schon gehört? Havelka glaubt, dass jemand bei der Indianerin, die von dem Hochhaus in der Michigan Avenue gesprungen ist, nachgeholfen hat. Die Crime Scene Unit hat keine Anzeichen dafür gefunden, aber du kennst ja Havelka und ihr berühmtes Bauchgefühl. Würde mich nicht wundern, wenn sie recht hätte. Oder würdest du zwanzig Stockwerke hochlaufen, nur um dich anschließend vom Dach zu stürzen? Sie ist gelaufen, wusstest du das? Der Aufzug war kaputt. Also, ich würde es mir einfacher machen. Schlaftabletten oder so.«
»Indianer tun manchmal seltsame Dinge«, erwiderte der Mann. »Frag mich, ich war lange mit einer Navajozusammen, als ich noch in Arizona war. Die glaubte, dass böse Geister unter der Erde leben und uns holen kommen, wenn wir die Umwelt verschmutzen.«
»Du meinst, diese Candy Morgan hat ein böser Geist vom Dach gestoßen?«, erschrak die Frau. »Sag das mal Havelka und du regelst morgen wieder den Verkehr. Nein, wenn sie ermordet wurde, hat ihr jemand Angst gemacht und sie ins Treppenhaus gejagt.« Sie seufzte leise. »Was soll’s, nicht unser Bier. Mir reichen schon die Fälle auf meinem Schreibtisch. Um Indianer und böse Geister soll sich Havelka selbst kümmern. Wo steckt sie eigentlich? Wollte sie heute nicht bis Mitternacht bleiben?«
Die Stimmen entfernten sich langsam. »Sie ist an der Addison oben, in der Wohnung der beiden Frauen, die verschwunden sind. Carol sonst was und noch eine Indianerin. Hey, ich glaube, sie ist wirklich auf dem Kriegspfad.«
Sarah blieb wie erstarrt am Fenster stehen, blickte ungläubig in die Richtung, aus der die Stimmen gekommen waren. Carol war verschwunden? Aber sie war doch verletzt. Warum sollte sie weglaufen, wenn sie verletzt war? Das war doch gar nicht möglich. Mit einer gebrochenen Nase und dem ganzen Blut im Gesicht konnte man doch nicht auf die Straße gehen. Das war bestimmt ein Missverständnis.
Und hatte sie den anderen Namen richtig verstanden? Candy Morgan war vom Dach eines Hochhauses gesprungen? Eine Indianerin? Doch nicht Candy, ihre lebenslustige Freundin aus dem Reservat in Grand Portage?
Candy und Selbstmord? Unmöglich! Sarah hatte zwar nie mehr von ihr gehört, seitdem sie vor fünf Jahren das Reservat verlassen hatte, doch so etwas Schwerwiegendes, dass sie deswegen Selbstmord begangen hätte, konnte gar nicht passiert sein. Dazu war Candy viel zu optimistisch.Nicht mal eine missglückte Beziehung oder eine Pleite im Job konnten sie umhauen.
Von draußen klatschte Schnee gegen das Fenster und ließ sie zusammenzucken. Die bösen Geister, hatte der Detective gesagt. Scherzhaft natürlich, aber er war auch kein Indianer. Selbst wenn er eine indianische Freundin gehabt hatte, wusste er nicht, welche seltsamen Kräfte es gab. Kein Weißer ahnte etwas von diesen unsichtbaren Wesen, selbst sie hatte geglaubt, ihnen entkommen zu sein. Doch ein Ungeheuer wie der Wendigo ließ sich nicht totschweigen, er war immer da, auch wenn man ihn nicht sah. Er kam mit dem eisigen Wind aus dem Norden und jagte seine Opfer erbarmungslos. Hatte er Candy auf dem Gewissen? Hatte er sich mit den Killern verbündet, um mit ihr abzurechnen?
Aber warum gerade Candy?
Warum sie selbst?
Die Bürotür schwang nach innen und ein kalter Lufthauch wehte in den Raum. Unsichtbare Arme, eisig kalt und klirrend vor Frost, legten sich um ihren Körper und schnürten ihr den Atem ab.
Sie taumelte gegen den Schreibtisch und hielt sich am Computer fest. Krächzende Laute schwirrten durch die Luft, schwangen als unheilvolles Echo im Raum umher. »Sarah!«, tönte es in ihren Ohren. »Du entkommst mir nicht!«
Aus dem Flur drangen mehrere Stimmen herein. »Lieutenant!«, hörte sie jemand sagen. »Sarah Anderson wartet in Ihrem Büro. Natürlich, Lieutenant.«
Die Jalousie krachte zu Boden. Gleich darauf öffnete sich das Fenster wie von Geisterhand und schwang nach innen. Glas splitterte. Eisiger Wind drang in den Raum und fegte einen Teil der Akten vom Schreibtisch. Eiskristalle und Schnee wirbelten herein. Eine dicke Eisschichtüberzog den Schreibtisch und den
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