Winterkill
melde mich.«
»Ihr Mann?«, fragte Sarah.
»Noch nicht«, antwortete Havelka, »und ich bezweifle, dass er’s jemals werden wird.« Sie warf das Handy ins Ablagefach und blickte leicht genervt in den Schnee. Als ihr ein Linienbus in die Quere kam und ein Schwall schmutziger Schnee auf ihre Windschutzscheibe klatschte, fluchte sie wie ein Gangsterrapper und schaltete das Blaulicht ein.
Nachdem der Bus zur Seite ausgewichen war, stellte sie es wieder ab. Sie fuhren über die Roosevelt Road nach Westen, durch einen Stadtteil, der hauptsächlich von Italienern bewohnt wurde. Ihrer grimmigen Miene nach zu urteilen, dachte Havelka immer noch an ihren Verlobten. Sarah blickte aus dem Seitenfenster und dachte an Ethan und wie schön es wäre, jetzt in seinen Armen zu liegen. Warum hatte sie ihn nicht unter normalen Umständen kennengelernt? Ohne Killer, ohne Wendigo. Warum hatte sie gegen den Bruder eines Mafia-Bosses ausgesagt und sich in diese beschissene Lage gebracht?
Havelka schien ihre Gedanken zu lesen. »Special Agent Tumblin und US Marshal O’Keefe haben mir erzählt, was Sie durchmachen mussten. Das ist kein Geheimnis mehr. Gegen einen Mörder auszusagen ist mutig.«
»Ich weiß auch nicht, ob ich’s wieder machen würde.« Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück. »Warum sperrt die Polizei nicht alle Mafia-Leute ein? Sie wissen doch, wer der große Boss ist.«
»Wir haben keine Beweise«, erwiderte Havelka, »wenn wir jemand zu fassen kriegen, dann meist die Kleinen, und die kommen manchmal bald wieder frei. Die Mafia oder ihre Ableger beschäftigen die besten Anwälte der Welt. Eine Verurteilung wie im Fall von Alberto Cavani ist selten. Die hatten wir allein Ihnen … hey, sind Sie okay, Sarah?«
Sarah hatte bemerkt, dass sich eine dünne Eisschicht auf dem Armaturenbrett bildete, und war zusammengezuckt. »Alles … alles okay«, sagte sie. »Ich bin nur ein bisschen nervös.«
»Kein Wunder«, sagte Havelka. »Sie haben ja auch ’ne Menge mitgemacht.«
Sie wischte das Eis vom Armaturenbrett. »Das passiert öfter«, sagte sie, »der Wagen hat schon einige Jahre auf dem Buckel. Seien Sie froh, dass es nicht regnet, sonst wären sie jetzt nass. Unser Budget ist knapp, wissen Sie?«
Sarah löste sich nur langsam aus ihrer Verkrampfung. Oder der Wendigo ist wieder hier, dachte sie verunsichert.
»Was ist denn los?«, fragte Havelka besorgt. »Sie sind so blass. Ist Ihnen nicht gut? Fahre ich zu schnell?«
»Nein, nein«, erwiderte Sarah. »Es ist nur … Ich darf gar nicht daran denken, was passiert wäre, wenn mich die Killer erwischt hätten. Es war … so furchtbar.«
»Jetzt sind Sie in Sicherheit.«
Sarah zog den Reißverschluss ihres Anoraks hoch. Die Kälte kroch inzwischen auch durchs Seitenfenster. Unter ihrem Anorak tastete sie sich an ihrem rechten Arm entlang und breitete sich auf ihrem Rücken aus. Sie griff mit eisigen Fingern nach ihr und drohte ihr die Luft abzuschnüren. Auf dem Seitenfenster hatte sich ebenfalls Eis gebildet.
Fall nicht auf ihn herein, hämmerte sie sich ein, du bistin Sicherheit. Die Frau neben dir ist ein Cop, und gleich bist du bei einem FBI-Agent und US Marshal O’Keefe. Lass dich von dem verdammten Monster nicht ins Bockshorn jagen. Dir kann nichts passieren.
»Ah, da sind wir ja«, sagte Havelka. Vor ihnen tauchte ein zehnstöckiges Gebäude mit riesigen Fenstern auf. Etliche Fenster waren erleuchtet. »Tröstlich zu wissen, dass auch die Feds nachts ranmüssen. Sind Sie okay?«
Sarah zitterte vor Kälte. »Mir ist nur kalt«, erwiderte sie tapfer. »Ich hoffe, der Agent hat einen heißen Kaffee für uns.«
»So was Ähnliches bestimmt.«
Sie parkten in der halbrunden Einfahrt und stiegen aus. Im selben Augenblick hörte Sarah das Krächzen. Heftiger als je zuvor peitschte ihr der Wind entgegen. Mit ungeheurer Wucht riss er sie von den Beinen und schleuderte sie auf die Straße. Sie stemmte sich dagegen, wollte aufstehen und wurde wie von einer Riesenfaust in den Schnee gedrückt. Aufgeregtes Hupen setzte ein, und ein Auto fuhr so dicht an ihr vorbei, dass der linke Vorderreifen über einen Zipfel ihres Anoraks rollte.
»Sarah!«, hörte sie Lieutenant Havelka aus scheinbar weiter Ferne rufen. »Um Gottes willen! Stehen Sie auf !«
Sarah stemmte sich auf die Ellbogen, sah einen dunklen Schatten. Bedrohlich wie ein riesiges Raubtier näherte er sich ihr.
»Lass mich in Ruhe!«, schrie sie.
Wieder fegte ihr der Wind entgegen. Sie rappelte sich auf,
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