Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Winterkill

Winterkill

Titel: Winterkill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ueberreuter
Vom Netzwerk:
und als würde sie von einem Hurrikan getrieben, stolperte und humpelte sie über die Straße und prallte gegen den Rinnstein, knapp vor einem Linienbus, dessen Fahrer wütend hupte und einige Schritte weiter an einer Haltestelle hielt.
    Sarah schleppte sich mit letzter Kraft in den Windschatten des Busses, hangelte sich an der Karosserie entlang bis zur Tür und stieg ein. Vollkommen erschöpft und mit Tränen in den Augen sank sie zu Boden. »Fahren Sie!«, rief sie verzweifelt. »Fahren Sie endlich!«
    Niskigwun fand nicht einmal die Zeit, seine Leggins und das Kriegshemd aus Wildleder anzuziehen, so eilig hatte er es. Nur mit der Kappe aus Wolfsfell über seinen grauen Haaren und in die alte Decke gehüllt, stieg er in seinen Pick-up und fuhr zu der roten Zeder am Ufer des Lake Superior zurück.
    Über den »Mocassin Telegraph« hatte er gehört, was mit Candy in Chicago und Wendy in Grand Forks passiert war. Bei Candy hatte der Wendigo ganze Arbeit geleistet, doch warum hatte er Wendy nur ins Koma versetzt? Und warum waren Sarah und Florence noch immer am Leben? Waren seine Gebete und Lieder nicht laut genug gewesen?
    Ungeduldig lenkte er seinen Wagen auf eine Nebenstraße. Das Schneetreiben hatte nachgelassen und nur noch vereinzelt fielen Flocken vom Himmel. Das Brummen des Motors war das einzige Geräusch in der abgelegenen Stille. Wie glühende Finger tasteten sich die Scheinwerfer durch die Dunkelheit.
    Auf einer Lichtung parkte er den Wagen und stieg aus. Die Kälte machte ihm nichts aus, dazu lebte er schon zu lange im hohen Norden. Er nahm die mit Eulenfedern verzierte Rassel von der Rückbank und stieg zum Steilufer hinab. Die heilige rote Zeder hob sich deutlich gegen den Nachthimmel ab.
    Diesmal entzündete er ein Feuer. Er wartete, bis die Flammen hoch emporzüngelten, streute etwas Tabak hinein und reckte die Arme zum Himmel. »Kitche Manitu!«,rief er. »Du hast den Wendigo in die Stadt geschickt und eines der bösen Weiber, die meinen Sohn getötet haben, in die Dunkelheit gestürzt. Dafür danke ich dir, Schöpfer aller Dinge.«
    Er lauschte dem Knistern der Flammen und fuhr fort: »Doch warum sind Wendy und Sarah noch am Leben? Und was ist mit dem Weib, das nach New York gegangen ist und ihren Körper in Magazinen zur Schau stellt?«
    Niskigwun schüttelte die Rassel und tanzte auf der Stelle, ging dicht neben dem Feuer in die Hocke und stimmte ein Lied an, das seine Vorfahren vor einem Angriff auf ein feindliches Dorf gesungen hatten. Zum treibenden Rhythmus seiner Rassel sprang er um die Flammen herum und trat auf den Felsvorsprung, auf dem die Zeder wuchs.
    Er streute mehr Tabak ins Feuer. »Ich weiß, was ich von dir verlange, Kitche Manitu. Es ist uns nicht erlaubt, einen Angehörigen unseres Volkes zu töten. Aber gehören diese Weiber noch zu unserem Stamm? Ich sage: Nein, sie haben unser Volk im Stich gelassen und sich mit den Weißen in den Städten verbündet. Sie gehören nicht mehr zu uns, schon allein deshalb haben sie den Tod verdient.
    Aber was sie meinem Sohn angetan haben, ist noch schlimmer. Sie haben eine verderbliche Saat in seinen Körper gepflanzt, die selbst du nicht mehr aufhalten konntest, Kitche Manitu. Ist diese Schmach nicht groß genug, um den Wendigo auf sie zu hetzen und sie ins Reich ewiger Dunkelheit zu stoßen?
    Bestrafe sie für ihr Verbrechen, Kitche Manitu! Verbünde dich mit dem Wendigo und lasse sie für Ihr verderbliches Tun bezahlen!«
    Aus der Dunkelheit antwortete ihm das dumpfe Tuten eines Erzfrachters, der an der Küste entlang nach Duluth unterwegs war. Sekunden später erhob sich eine Eule ausder roten Zeder, ein Tier, das bei den meisten Stämmen den Tod brachte. Niskigwun betrachtete ihr Auftauchen als gutes Zeichen, reckte beide Arme zum Himmel und stimmte erneut ein Lied an, einen der zornigen Gesänge, die sein Urgroßvater im Kampf gegen die Weißen gesungen hatte. Mit stampfenden Schritten tanzte er über den felsigen Boden, der rund um die lodernden Flammen bereits aufgetaut war und im Feuerschein glänzte.
    Er sah nicht, dass die Eule an der Küste entlang nach Süden flog, in die Richtung von Chicago.
    Sarah zeigte dem Fahrer ihre Monatskarte und ließ sich erschöpft auf die vorderste Sitzbank fallen. Keuchend rang sie nach Luft. Nur mit allerletzter Kraft hatte sie es in den Bus geschafft.
    Ein schneller Blick aus dem Fenster überzeugte sie davon, dass sie niemand verfolgte. Weder die Polizistin noch die beiden Killer waren zu sehen.

Weitere Kostenlose Bücher