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Winterkill

Winterkill

Titel: Winterkill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ueberreuter
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die in dem nachlassenden Schneetreiben klarer, aber nicht weniger bedrohlich aussahen, und das dunkle Gebäude des Field Museums, in dem sie noch vor wenigen Stunden gearbeitet hatte. Das unheimliche Bild vom Wendigo, das Sophie ihr gezeigt hatte, tauchte vor ihrem geistigen Auge auf.
    War der Wendigo nach Chicago gekommen, um indianische Frauen wie Candy und sie zu töten? Griff er sich seine Opfer wahllos oder hatte er es aus einem bestimmten Grund auf sie abgesehen? Sie beide gehörten zu den Anishinabe und kamen aus demselben Reservat. Sie waren gemeinsam zur Highschool gegangen, waren Cheerleader gewesen und hatten im selben Softball-Team gespielt. Sie hatten sich nie etwas zuschulden kommen lassen.
    Der Bus hielt gegenüber vom Hilton und der guten Sushi-Bar, in der sie Sophie Pirkers Geburtstag gefeiert hatten. Der Fisch war köstlich gewesen, aber allzu oft konnten sich weder Sophie noch sie ein so teures Dinner leisten. Beim nächsten Geburtstag würde es Pizza geben, hatte Sophie beim Betrachten der Rechnung gesagt. »All you can eat.«
    Der Fahrer öffnete die Tür und wartete vergeblich auf einen Fahrgast. Dennoch hatte Sarah das Gefühl, als würde jemand zusteigen, ein unsichtbares Wesen. Sie spürte sogar den Luftzug, der mit ihm in den Bus strömte. Die eisige Luft traf sie voll ins Gesicht und lähmte ihre Gesichtsmuskeln. Wie frostiger Nebel, aus dem es kein Entrinnen gab, legte sich das Wesen um sie, kroch durch Augen, Nase, Mund und Poren in sie hinein, durchbrach ihre Adern undvermischte sich mit ihrem Blut. Viel entschlossener und brutaler als bei den ersten Malen nahm es Besitz von ihr, ließ ihr kaum noch Luft zum Atmen. Ein eiserner Reifen schien sich um ihre Brust zu legen und ihr die Luft abzuschnüren. »Wendigo!«, flüsterte sie entsetzt. »Wendigo!«
    Nur sie spürte das Ungeheuer. Die anderen Fahrgäste saßen unbeteiligt auf ihren Bänken und merkten gar nicht, was mit ihr geschah. Der Busfahrer schloss die Tür und fuhr ungerührt weiter. Sie öffnete den Mund und wollte schreien, laut um Hilfe rufen, doch über ihre Lippen kam nicht mal ein leises Stöhnen. Mörderische Kälte machte sich in ihrem Körper breit, erstickte jeden Gedanken und jedes Gefühl, ließ nur noch Raum für das, was die Stimme des unsichtbaren Wesens befahl.
    »Komm zu mir, Sarah!«, ertönte die krächzende Stimme in ihrem Kopf.
    Wie unter Hypnose stand Sarah auf und trat an die Tür. Sie hatte keinen Willen mehr, bewegte sich wie ein Roboter. Von Kälte erfüllt und gelähmt wartete sie geduldig, bis die nächste Haltestelle kam und der Bus an den Straßenrand fuhr. »Navy Pier«, verkündete der Fahrer und blickte sie neugierig an. »Wollen Sie hier wirklich raus, Miss? Ich kann mir was Schöneres vorstellen, als bei dem Wetter Riesenrad oder Karussell zu fahren.«
    Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Selbst wenn die Sonne scheint, bringt mich niemand auf das Riesenrad. Nein, ich wohne da drüben. Ich glaube …«
    »Ist Ihnen nicht gut, Miss?«
    »Alles okay, Mister.«
    Sie stieg aus und ging langsam, aber zielstrebig auf den Pier zu. Der Vergnügungspark, sonst voller Trubel und bunter Lichter, lag verlassen in der Dunkelheit. Nur ein paar Straßenlampen verbreiteten trübes Licht. Zu beiden Seitender ehemaligen Anlegestelle für Kriegsschiffe schlug der Lake Michigan mit schäumenden Wellen gegen die Mauer. Einige Eisschollen tanzten auf dem Wasser. Die riesige Family Hall ragte wie ein dunkler Koloss in die Dunkelheit, dahinter hob sich das gewaltige Riesenrad im schwachen Schein einer Notbeleuchtung gegen den schwarzen Himmel ab. Kein Vergleich mit den bunten Lichtern, die sonst um diese Zeit auf dem Gelände flackerten. Außer dem Heulen des Windes und dem Rauschen der Wellen war kein Laut zu hören, keine Musik, kein Stimmengewirr, nichts.
    Nach vorn gebeugt und mit mechanischen Schritten näherte sie sich dem verschlossenen Gittertor. Außer ihr war kein Mensch zu sehen. Die Fenster eines Restaurants waren sogar mit Brettern gesichert, wie bei einem Hurrikan. In Chicago gab es keine Hurrikans, doch der Wind war hier am See auch so stark genug, tobte heftig und beinahe wütend über den leeren Parkplatz.
    Vor dem Eingang stand ein gelbes Taxi. Bei seinem Anblick stutzte Sarah, als würde sie etwas Vertrautes aus einer früheren Welt sehen. »Ethan!«, flüsterte sie bewegt. Für einen Augenblick war sie stark genug, um sich gegen die eisige Kälte zu wehren. Sie rannte auf das Taxi zu, klopfte gegen

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