Winterkill
das Fenster, riss an der Tür, doch es war leer und abgeschlossen, der Fahrer hatte es aus irgendeinem Grund abgestellt. Vielleicht weil der Motor nicht ansprang oder er sonst eine Panne hatte. Auf Fahrgäste hätte er vor dem Eingang zum Navy Pier in einer solchen stürmischen Nacht vergeblich gewartet.
»Ethan!«, flüsterte sie wieder. Sie hielt sich mit beiden Händen an dem Taxi fest und kämpfte verzweifelt gegen das unsichtbare Wesen an, das mit aller Macht in ihren Körper drängte, und spürte Tränen in den Augen, als sieerkennen musste, dass sie zu entkräftet war, um gegen die übermenschliche Stärke des Wendigo bestehen zu können. Wie Eiswasser verteilte sich das Blut des Monsters in ihrem Körper.
»Worauf wartest du noch, Sarah?«, rief die krächzende Stimme in ihrem Kopf. »Komm zu mir! Ich warte auf dich. Nur im Tod können wir vereint sein.«
Von der Stimme getrieben strebte Sarah auf den Eingang zu. Willenlos wie unter Hypnose kletterte sie über das stabile Gitter neben dem Eingangstor, ließ sich auf der anderen Seite in den Schnee fallen, stemmte sich vom Boden hoch und lief weiter. Den Schmerz in ihrem Knöchel und der Schulter spürte sie nicht mehr, ihr Körper war durch die mörderische Kälte gefühllos geworden.
An den vertäuten Ausflugsbooten entlang stolperte Sarah über den Pier. Sie wusste nicht, wohin sie lief. Wie eine Marionette bewegte sie sich durch die Nacht, willenlos und der Laune des Ungeheuers hilflos ausgeliefert. Der Wind zerrte an ihrem Anorak und an ihren Haaren, die unter der Strickmütze hervorquollen, drückte sie in eine schmale Gasse zwischen zwei Imbissbuden. Sie zwängte sich hindurch, kletterte über eine niedrige Mauer und lief zu dem Riesenrad, das bedrohlich vor ihr in den Himmel ragte. Vor dem niedrigen Gebäude am Fuß des gewaltigen Riesenrades blieb sie stehen.
Als hätte der Wind nur darauf gewartet, fegte er plötzlich mit solcher Gewalt über den Pier, dass eines der Fenster im Kassenhäuschen zerbrach. Die Scherben flogen nach allen Seiten. Sarah wandte sich rasch ab und war froh, dass sie nicht getroffen wurde.
Sie stieg durch das offene Fenster. Nach einigem Suchen fand sie einen Schalter und knipste das Licht an. Suchend blickte sie sich um. An der Stirnwand des Raumes war einverglaster Kasten mit Schaltern und Knöpfen. Sie schlug die Scheibe ein und legte den Hauptschalter um, schaltete die Festbeleuchtung ein und setzte das Riesenrad in Gang. Die Musik fand sie nicht, wahrscheinlich wurde sie über einen der beiden Computer gesteuert.
»So ist es gut«, meldete sich die krächzende Stimme, »und jetzt steig ein und komm zu mir! Dein Abschied aus dieser Welt wird noch spektakulärer als der von Candy sein. Was für ein Spektakel!«
Sarah verließ das Gebäude und stemmte sich gegen den Wind. Ächzend vor Anstrengung kämpfte sie sich zu den Gondeln durch, die langsam an der Einsteigerampe vorbeizogen. Ohne jede Energie, sich gegen die krächzende Stimme wehren zu können, stieg sie in eine der Kabinen und setzte sich. Mit den Händen an der Verstrebung stieg sie mit der Gondel in die Nacht empor.
Eiskalter Wind blies ihr in die Augen, als das Riesenrad sie nach oben trug. Er rüttelte wütend an dem stählernen Gestänge, das die Gondeln an den Speichen hielt, als hätte er es nur darauf abgesehen, sie vom Gerüst zu reißen und in den See zu werfen. Die Gondeln schaukelten und ächzten, waren zum Spielball des heftigen Windes geworden, der über dem See tobte.
»Ist das nicht schön, Sarah?«, rief die krächzende Stimme. Sie war selbst in dem Sturm zu hören. »Sieh dir die Stadt noch mal an, Sarah, bevor du mein Reich betrittst!«
Sarah starrte auf die Skyline, die sich am Ufer des Lake Michigan erhob. Weil das Schneegestöber endlich nachgelassen hatte, waren die Wolkenkratzer jetzt in ihrer ganzen Pracht zu sehen. Wie erleuchtete Paläste ragten sie zum schwarzen Nachthimmel empor. Auf einem der Dächer strahlten bunte Lichter. Die erleuchteten Fenster spiegelten sich im Schnee und im See.
Direkt unter ihr flackerten die grellen Lampen des Riesenrades, fuhren unruhig an den langen Speichen entlang. Ohne die Musik, die sonst in dem Vergnügungspark erschallte, machte das Riesenrad einen gespenstischen, beinahe unwirklichen Eindruck. Der Wind heulte, der See rauschte, das Gestänge, das die Gondeln hielt, ächzte bedrohlich.
Ihr Blick wanderte zum Ende des Parks und blieb an dem einsamen Taxi hängen, das vor dem Eingang parkte.
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