Winterkill
hatte Father Paul gesagt. »Niskigwun behauptet, er habe den Wendigo auf die jungen Frauen gehetzt, die seinen Sohn in den Selbstmord getrieben hätten. Ich glaube weder das eine noch das andere, aber ich wollte es dir wenigstens gesagt haben. Pass gut auf dich auf, Flo … ich bete für dich, okay?«
Sie hatte sich nicht einmal bedanken können. »Nun mach schon, Flo, wir haben nicht ewig Zeit«, rief der Fotograf ungeduldig. »Schieb deinen hübschen Hintern auf das Bärenfell und gib uns den grimmigen Raubtier-Look! Mach schon, Flo!«
Wenn es nach Father Paul gegangen wäre, hätte sie das Shooting abbrechen und sofort nach Hause fahren sollen. Auch die Polizistin hatte relativ ernst geklungen. Dennoch war Flo geblieben. Was stellten sich Father Paul und die Cops vor? Sollte sie auf einen Tausender verzichten, nur weil dieser verrückte Schamane auf die Idee gekommen war, ein Ungeheuer auf sie zu hetzen? Ein Ungeheuer, das nur in den Legenden ihres Volkes existierte?
Was bildete sich dieser Niskigwun überhaupt ein? Wie kam er dazu, ihr und den anderen Mädchen die Schuld am Tod seines Sohnes zu geben? Weil sie mal über ihn gelacht hatten? Weil sie so mutig gewesen waren, das Reservat zu verlassen, und er bei seinem Vater geblieben war und Frust geschoben hatte? Weil sie ihm einen Korb gegeben hatte? Um Himmels willen, wenn jeder junge Mann, den sie abblitzen ließ, ein Ungeheuer auf sie hetzen würde, könnte sie sich gleich begraben lassen!
»Das soll grimmig sein?«, rief der Fotograf. »So sieht mich eine gelangweilte Hauskatze an. Du musst mir schonmehr geben, Flo! Streng dich an! Du bist ein Tiger! Der verdammte Wärter hat dir in den Hintern getreten und du hast eine Stinkwut im Leib! Du drehst dich um und fauchst ihn wütend an … ja, so ist es gut, Flo! Warum nicht gleich?«
Als der Fotograf endlich zufrieden war, schlüpfte sie in Jeans und Pullover und die festen Stiefel. Draußen war es so kalt, dass sie ihren Skianorak mitgenommen hatte. Das Geschenk einer Modefirma. Dazu die rote Wollmütze mit den weißen Streifen, angeblich der letzte Schrei in diesem Winter. Sie verabschiedete sich von dem Manager der Firma, die den Kalender produzierte, und dem Fotografen. »Macht’s gut, Leute! Hat Spaß gemacht«, log sie. »Wäre schön, wenn wir nächstes Jahr wieder zusammenarbeiten könnten.«
Sie fuhr im Aufzug nach unten und trat in die nächtliche Kälte hinaus. Es schneite kräftig. Bis nach Chicago reichte das winterliche Tiefdruckgebiet, hatten sie im Fernsehen gesagt. Obwohl ihr modischer Anorak angeblich arktistauglich war, fror sie schon nach wenigen Sekunden erbärmlich. Der eisige Wind schien sich wenig um die Garantie des Anorakherstellers zu kümmern und drang bis auf die Haut.
Normalerweise war in einem angesagten Stadtteil wie TriBeCa immer ein Taxi zur Stelle, doch bei diesem Wetter ließ sich keines blicken. Die Straße lag verlassen vor ihr, und der Wind war so unangenehm, dass sie es kaum aushielt. Normalerweise fror sie nicht so schnell, ganz im Gegensatz zu den meisten anderen Models, die aber meist zwei, drei Kilo weniger wogen. Sie war nicht bereit, bis auf die Knochen abzumagern, auch wenn sie das einige Aufträge kosten würde. Wenn man es nur als wandelndes Skelett zum erfolgreichen Model brachte, wollte sie lieber in einem Büro arbeiten.
Ihr Blick fiel auf den Eingang zur U-Bahn-Station. Kein Problem, dachte sie, als sich weit und breit kein Taxi blicken ließ, nehme ich eben die U-Bahn. Sie wohnte im Village, nur einen halben Block von der U-Bahn-Station Christopher Street entfernt, das ging wahrscheinlich sogar schneller als mit dem Taxi, und vor einem Überfall brauchte man sich bei diesem Sauwetter wohl nicht zu fürchten. Sie lächelte bei dem Gedanken. Für alle Fälle hatte sie ihr Pfefferspray in der Handtasche.
Sie stieg die Treppe zur U-Bahn hinunter. Heulender Wind begleitete sie in den düsteren Untergrund, zerrte selbst unter der Erde noch an ihren Kleidern. Ein Krächzen drang an ihre Ohren. Eine Lautsprecherdurchsage, nahm sie an. Hoffentlich keine Verspätung, sonst kam sie überhaupt nicht mehr ins Bett. Sie wollte früh raus und sich für das Vorsprechen bei einer Agentur zurechtmachen. Selbst eine hübsche Frau wie sie brauchte lange, um so auszusehen, wie es die Agenturen wollten.
Sie blieb stehen und kramte ihre Metrocard aus der Handtasche. Wieder dieses Krächzen, nur etwas näher, und bittere Kälte, die ihr bis ans Drehkreuz gefolgt war und
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