Winterkill
Treppenaufgang erklangen Schritte. Sie ahnte, in welcher Gefahr sie schwebte, stieg auf die niedrige Mauer und kletterte über den Gitterzaun. Als sie sich auf der anderen Seite nach unten hangelte, riss ihr Anorak ein und ein Stofffetzen blieb am Maschendraht hängen. Sie riss ihn rasch herunter und duckte sich hinter ein dorniges Gestrüpp auf dem steilen Hang.
Keine Minute zu früh, denn kaum war sie in Deckung gegangen, tauchte einer der beiden Killer auf dem Bahnsteig auf. Im dichten Schneetreiben nahm sie ihn nur als undeutlichen Schatten wahr. Er hielt seinen Mantel am Kragen zu, als er nach ihr Ausschau hielt, ging ein paar Schritte und kehrte wieder um. Für einen Sekundenbruchteil blickte er auch in ihre Richtung, dann verschwand er auf der Treppe. Sie wartete ein paar Minuten, um ganz sicherzugehen, kletterte auf den Bahnsteig zurück und erkannte erst beim Zurückblicken, wie steil und gefährlich der Hang war. Ein falscher Schritt und sie wäre auf die Straße gestürzt, ihren Verfolgern vor die Füße.
Etwas unsicher auf den Beinen stieg sie auf die Straße hinab. Der Lexus war nicht zu sehen. Die Killer waren schon zur nächsten Station gefahren, wussten nichts von ihrer Kollegin Sophie, hatten keine Ahnung, wohin sie floh. Bei ihr wäre sie sicher, für den Moment jedenfalls, bis der Sturm nachgelassen hatte und sie eine Entscheidung treffen konnte. Sophie würde sie auf der Couch schlafen lassen, da war sie ganz sicher.
Sophie Pirker wohnte nur zwei Häuserblocks von der Station entfernt, in einem winzigen Einfamilienhaus in einer abgelegenen Seitenstraße. Die weiße Farbe begann bereits abzublättern, nicht einmal bei Tageslicht hätte manerkannt, wie es ursprünglich ausgesehen hatte. In einem der Fenster brannte Licht, ein Fernseher flackerte.
Durch einen prüfenden Blick überzeugte sie sich davon, dass die Killer nicht in der Nähe waren, dann stieg sie die wenigen Stufen zum Eingang hinauf und klingelte. »Sophie! Ich bin’s, Sarah!«
Sophie öffnete in Bademantel und Hausschuhen und sah sie überrascht an. »Sarah! Wo kommst du denn her?«
»Ist ’ne lange Geschichte.«
»Na, dann komm erst mal rein.« Sophie zog sie ins Haus, drückte die Tür zu und nahm ihr Anorak, Mütze und Handschuhe ab. »Mein Gott, du bist ja vollkommen durchnässt und dreckig! Zieh die Sachen lieber aus. Ich geb dir ein paar alte Klamotten von mir, die werden dir zwar nicht passen, aber sie sind warm. Den Anorak häng ich über die Heizung zum Trocknen auf.« Sie holte Unterwäsche, ein T-Shirt und einen Trainingsanzug aus dem Schlafzimmer und warf ihr die Sachen zu. »Wie wär’s mit einem heißen Tee? Mit Milch und Zucker, stimmt’s? Geh schon mal ins Wohnzimmer und mach’s dir gemütlich. Der Tee dauert nicht lange.«
Sarah zog die trockenen Sachen an, setzte sich auf die Couch und genoss die behagliche Wärme, die aus mehreren Luftschächten in das kleine Zimmer strömte. Die Jalousien vor den zwei Fenstern waren geschlossen. Außer der Sitzecke und dem Flachbildschirm, auf dem Cary Grant mit Doris Day turtelte, in einem Film aus den Sechzigerjahren, gab es ein Regal mit Büchern, vor allem Fachbücher über Indianer und ein paar Krimis und Liebesromane.
Sophie brachte ein Tablett mit dem Tee, Milch und Zucker und setzte es auf dem Tisch ab. Mit der Fernbedienung stellte sie den Fernseher leiser. »Ich dachte, du wolltest mit Carol ins Kino gehen und um die Häuser ziehen?«,sagte sie verwundert. Sie setzte sich. »Was ist denn passiert, Sarah?«
Sarah trank einen Schluck und wartete, bis die Wärme des Tees in ihrem Körper zu spüren war. »Ich werde verfolgt, Sophie. Von zwei Mafia-Killern.«
Sophie glaubte an einen Scherz und grinste unverhohlen. »Na, logisch. Und ich bin Special Agent beim FBI.«
»Ich mache keine Witze, Sophie. Es stimmt wirklich!« Sarah berichtete ihr in wenigen Sätzen, was während der letzten Stunden passiert war, beschränkte sich aber auf die Flucht vor den Killern und verschwieg den Wendigo. Da ihre Tarnung ohnehin aufgeflogen war, verheimlichte sie ihr auch nicht, dass sie im Zeugenschutzprogramm war und eigentlich Sarah Standing Cloud hieß.
Sophie brauchte einige Zeit, um die Nachricht zu verdauen. »Zeugenschutzprogramm«, wiederholte sie fassungslos. »Wie die Blonde in dem Krimi neulich. Die hatte gegen einen Mafia-Killer in New York ausgesagt.«
»Bei mir war’s ähnlich«, gab Sarah zu. Erleichtert darüber, endlich wieder frei über ihre Vergangenheit
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