Winterkind
gestern – Sie haben eine so zarte Konstitution. Sie dürfen sich nicht überfordern. Niemand würde schlechter von Ihnen denken, wenn Sie sich hin und wieder eine Ruhepause gönnten.“
Er sagte es so treuherzig, dass sie beinahe nervös aufgelacht hätte. Niemand? Von manchen Dingen verstanden Männer wirklich sehr wenig. Lieschen würde es bis in die Kellerküche herumtratschen, wenn die Hausherrin sich ins Bett legte, ohne krank oder in – in gesegneten Umständen zu sein. Von der Kellerküche aus würde es seinen Weg ins Dorf nehmen, zu den anderen Köchinnen, die nicht bei der Herrschaft lebten, zu den Waschfrauen und Servierhilfen – und von dort weitersickern, wie ein langsam wirkendes Gift, in all die Herrenhäuser und Gutsschlösser in der ganzen Gegend. Und das nächste Mal, wenn sie Frau Geheimrat zum Tee lud, oder Frau Amtsgerichtsrätin, oder Frau Konsul … Dann würde sie in ihren Blicken sehen, wie es seine Wirkung getan hatte.
Sie schüttelte leicht den Kopf, und vielleicht nur, um ihn auf andere Gedanken zu bringen, sagte sie:
„Sie haben mir eigentlich noch nichts erzählt von – von dem Begräbnis. Nach dem Tumult gestern, und dann das Abendessen, und natürlich waren Sie sehr müde … Nur … dass ich nicht mitkommen konnte … Es bedeutet nicht, dass es mir gleichgültig wäre.“
Durch die Handschuhe hindurch spürte sie weiter seine Finger in ihrer Hand. Er nickte, wich ihrem Blick aber aus. „Ich weiß, meine Liebe, ich weiß. Sie können doch nichts für Ihre winzigen Schwächen, das versuchte ich doch eben auch zu sagen. Und Sie sind immer eine vorbildliche Tochter gewesen.“
Es klang freundlich, aber abschließend. Normalerweise hätte sie auf diesen Unterton gehört. Warum sie es diesmal nicht tat, wusste sie selbst nicht recht.
„Meine … Mutter“, sagte sie langsam und stockte gleich wieder. So furchtbar vertraut war das Wort auf ihrer Zunge, süß und salzig, so leicht sprach es sich immer noch aus. Nach all den Jahren, die sie es nicht benutzt hatte, nicht einmal gedacht. Jetzt war es wieder da. Der Spiegel hatte es mitgebracht. Sie tastete daran herum, sagte es noch einmal: „Meine Mutter …“
Er machte eine seltsame, schnelle Bewegung mit dem Hals, eine abrupte Drehung, als ob er ein lästiges Insekt verjagen wollte, das sein Gesicht umschwirrte.
„Wir haben recht daran getan, jeden Kontakt zu ihr einzustellen.“
„Ja“, sagte sie rasch, „natürlich, aber … Wegen der Beerdigung … Es würde mir doch helfen, wenn …“ Was würde ihr helfen? Sie wusste es selbst eigentlich nicht, kam auch nicht dazu, darüber nachzudenken. Sein Gesicht verschloss sich jetzt völlig, er entzog ihr seine Hand und räusperte sich hart.
„Bitte, nicht jetzt, haben Sie Verständnis. Ich bin selbst noch etwas erschöpft von der Reise, und im Arbeitszimmer wartet ein ganzer Stoß Papiere auf mich. So zwischen Tür und Angel … schon halb bei den Geschäften … Das sind Dinge, die man lieber in Ruhe bespricht, am warmen Ofen, meinen Sie nicht auch? Dann ist es auch für Sie leichter … angenehmer. Soweit so etwas angenehm sein kann, natürlich.“
Blanka wollte nach seinem Arm greifen, als er sich ganz abwandte, aber die Flurtür klappte, und Lieschen polterte ins Frühstückszimmer. Blanka schluckte und merkte dabei, dass ihr Mund offen gestanden hatte.
„Verzeihen Sie“, flüsterte sie.
Er schob schon den Stuhl zurück, bückte sich aber noch einmal zu ihr herunter.
„Mein liebes Kind. Es ist alles in Ordnung“, sagte er sanfter. „Jetzt seien Sie aber ein vernünftiges Frauenzimmer und hören Sie auf mich. Wenn Sie sich partout nicht hinlegen wollen, nehmen Sie doch vielleicht eine leichte Handarbeit oder so etwas. Ich werde ein paar Stunden arbeiten. Wir sehen uns dann zum Mittagessen.“
„Soll ich denn abräumen, gnädiger Herr?“ fragte Lieschen.
„Tu das“, sagte er knapp.
Die Tür klappte wieder. Blanka saß allein am Tisch.
Ein paar Atemzüge lang rührte sie sich nicht.
„Gnä’ Frau“, sagte Lieschen. „Was is denn nu?“
Blanka schreckte auf. Der kleine Pompadour fiel von ihrem Schoß herunter und baumelte an seinem Band. Sie spürte das Gewicht der Schlüssel. Sie klapperten und klirrten schwach gegen das braune Fläschchen, das sie nach der alltäglichen Morgendosis wie immer darin verstaut hatte. Woran hatte sie gedacht? Graue Mauern, schlanke Türme. Sie setzte an, Lieschen zu bitten, ihr die Stickarbeit ins Damenzimmer zu bringen
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