Winterkind
das können Sie nicht?“
„Wo werd ich denn! Finden Sie mich so hässlich, dass es Ihnen vorkommt, als steckte irgendwo ein Mann in mir?“
„Nein, nein.“ Johanna wurde rot und wickelte sich eine Haarsträhne um den Zeigefinger. „Ich finde, eigentlich sehen Sie sehr nett aus. Wenn Sie nur nicht immer so biestig mit mir wären!“
„Wirklich, Fräulein Johanna! Na, ich danke auch schön für das Kompliment, aber jetzt reicht es wohl. Soll ich Ihnen vielleicht noch eine Geschichte von dem großen Hund erzählen, bevor Sie versuchen, ein bisschen zu schlafen?“
Das Mädchen war noch nicht fertig mit seinen Gedanken. Es schüttelte abwesend den Kopf und spielte mit der Haarsträhne.
„Nun“, fragte Sophie, „was ist denn noch?“
„So, wie die Frau Mama“, sagte Johanna leiser, „sehen Sie aber nicht aus. Ich meine …“
„So wie die gnädige Frau sehen nicht viele Frauen aus. Was denken Sie wohl, warum Ihr Herr Vater nur sie hat heiraten wollen, sie und keine andere? Obwohl sie noch so jung war? Unsereins muss mit dem zufrieden sein, was er hat. Wenn man frisch und natürlich ist und immer auf Reinlichkeit hält, dann ist das schon gut genug.“
„Aber warum wollte Sie dann niemand heiraten? Sie sind doch noch gar nicht so sehr alt?“
Sophie sog scharf die Luft ein. Johanna ließ die Strähne los und vergrub das Gesicht im Kopfkissen.
„Entschuldigen Sie“, klang es unterdrückt aus den Federn. „Entschuldigen Sie bitte, das war ungezogen.“
Sophie fühlte sich wie in eiskaltes Wasser getaucht. Bilder wirbelten in einem Strom an ihr vorbei. Die ewig kranke Mutter hustend auf dem Sofa im Salon, in dem selbst im Winter nur selten Feuer brannte und es außer Bücherstapeln bis unter die Decke nichts mehr gab … Der Vater mit dem klugen, besorgten, ratlosen Gesicht, in seine Klassiker vergraben, das kriegslahme Bein unter dem wackligen Tisch versteckt … Er las ihr vor, ihr und den Schwestern, damit sie den Hunger nicht gar zu sehr spürten. Fleisch gab es nur an den Feiertagen, die sorgfältig geflickten Kleider wurden von einer zur anderen vererbt, und statt hübscher Schleifen gab es umgenähte Stoffreste als Bänder für die Zöpfe. Griechische Mythologie und Kunstgeschichte statt Tanzunterricht und Nähkränzchen in der Nachbarschaft. Welcher Mann hätte an die Tür dieses verarmten Gelehrtenhaushalts klopfen sollen?
Sie brauchte einen Moment, bis sie sich wieder gesammelt hatte. „Ja, es war sehr ungezogen. Ungezogen und gedankenlos. Meinen Sie nicht, ich wäre auch lieber in meinem eigenen Haus, mit meinen eigenen Kindern?“ Sie sagte es sehr bestimmt, aber etwas in ihr dachte: Wäre ich das wirklich? Ein um den anderen Tag dieselben Vorhänge an denselben Fenstern, derselbe Klatsch aus denselben Mündern … Sie wunderte sich über sich selbst und merkte erst gar nicht, dass Johanna sich ihr wieder zugewandt hatte. Die großen hellen Augen musterten sie ernst.
„Nein, eigentlich nicht“, sagte sie, wiederholte unbewusst Sophies eigene Worte, sogar im ähnlichen, nachdenklichen Tonfall. Dann funkelte es in ihren Augenwinkeln, ein Grübchen sprang auf ihre Wange. „Sie würden ja eingehen wie ein eingesperrter Zugvogel!“
Sie prustete los, hob abwehrend die Arme, als Sophie ihr fest in den Schopf greifen wollte. „Das hat der Herr Papa gesagt, gar nicht ich! Gehen Sie doch hinunter und ziehen ihn an den Haaren!“
„Das sähen Sie wohl gern!“ Sophie wusste nicht, ob sie lachen oder schimpfen sollte. Doch, eigentlich wusste sie es schon. Aber das Lachen war stärker. Es platzte aus ihr heraus, bis ihnen beiden die Tränen in den Augen standen und sie sich den Mund zuhalten mussten, die eine mit dem Kopfkissen, die andere mit einem Taschentuch. Erst, als Johanna sich verschluckte und anfing zu husten, beruhigten sie sich wieder. Sophie schob die dünnen Arme unter die Bettdecke zurück und strich dem Kind die verwirrten Locken aus der Stirn, sacht und methodisch.
„Gouvernanten heiraten nicht“, sagte sie, als der Husten nachließ. „Und ich habe ja auch noch eine zusätzliche Ausbildung als Lehrerin bekommen, wissen Sie. Beim Lette-Verein in Berlin. Damit ich kleinen, ungezogenen Mädchen wie Ihnen ein wenig Zeichnen und Französisch beibringen kann. Und Lehrerinnen heiraten erst recht nicht. In einer öffentlichen Anstellung ist es sogar verboten. Aber, sagen Sie einmal – warum haben Sie das denn wissen wollen?“
Johanna sah verlegen an ihr vorbei auf die
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