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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Mer
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– und den Speiseplan fürs Mittagessen. Stattdessen sagte sie zu ihrer eigenen Überraschung:
    „Fang nur schon an, Lieschen, und mach dann oben mit den Betten weiter. Ich habe im Augenblick sonst nichts für dich zu tun.“
    „Is gut, gnä’ Frau.“
    Lieschen schob sich auf den Tisch zu. Blanka stand auf, sie musste aufstehen, um ihr nicht im Weg zu sein beim Abräumen. Nach links lag die Tür zum Damenzimmer. Ihre Füße trugen sie wie von selbst auf die andere Tür zu. Die Tür, die in die Halle führte.

    Der riesige Kasten stand an den Treppenaufgang gelehnt. Aus dem Frühstückszimmer kam leises Klirren; ansonsten war es still, ganz still. Blanka sah zu ihm auf, zur oberen Kastenecke hin, wo die Bretter weggebrochen waren. Es schimmerte dort so matt ... Und eine Feder hing an einem Nagel. Eine einzelne, zerrupfte dunkle Feder. Ein regloser Klumpen im Schnee … Ihr wurde schwindelig, aber diesmal hielt sie stand. Blieb einfach stehen, bis der Raum nicht mehr schwankte und der entsetzliche Druck im Magen nachließ. Manche Dinge verschwanden, wenn man sie ignorierte, anderen überließ, wie Johann das wollte … Manche Dinge, manchmal. Der Spiegel würde nicht verschwinden. Selbst, wenn sie ihn hier stehen ließ, mitten in der Halle, an den Treppenaufgang gelehnt. Selbst, wenn sie seine Anwesenheit so sehr ignorierte, dass alle anderen im Haus gezwungen sein würden, ihn genauso wenig zur Kenntnis zu nehmen, so zu tun, als sei er nicht da oder schon immer da gewesen. Er würde bleiben. Wirklicher werden mit jedem Tag, der verging. Nach und nach alle Gedanken ansaugen, sich in alle Träume stehlen. Bis jeder ihn fühlen würde wie eine lebendige Präsenz, dort unten in der Halle, ein eigenständiges, fremdes Wesen in ihrer Mitte. Ein eigenständiger Herzschlag …
    „Mutter“, flüsterte Blanka, und dieses Mal schmeckte es bitter, ganz hinten im Hals. „Frau Mutter, bitte, ich will ihn nicht.“
    Sie wartete auf das dunkle, spöttische Lachen in ihrer Vorstellung. Es kam nicht.
    „Ich will ihn nicht! Nehmen Sie ihn zurück. Nehmen Sie ihn zurück! Nehmen Sie …“
    Sie schlug sich auf den Mund, aber hinter der Hand flüsterte es weiter, bebend, verräterisch: „Nehmen Sie mich zurück …“
    Sie schlug noch einmal zu, ihre Vorderzähne ritzten von innen ihre Lippe auf. Das Blut war warm und salzig wie Tränen. Es gab kein Zurück, für niemanden. Das Grab hatte alles verschluckt, was vielleicht gewesen war, hätte sein können – ein feuchtes, gieriges schwarzes Maul, das keine Antworten hatte. Und niemand, der ihr wenigstens davon berichten wollte. Die letzte Verbindung zerrissen – die letzte …
    Blanka ließ die Hand sinken. Vielleicht waren es jetzt wirklich Tränen, die den Spiegel an der aufgebrochenen Stelle so grausilbern glitzern ließen. Sie blinzelte, leckte sich über die Lippen.
    Die letzte Verbindung, vielleicht. Aber nicht die allerletzte. Nein, nicht die allerletzte.
    Vorsichtig, nur mit den Fingerspitzen, berührte sie das raue Kistenholz – nur das Kistenholz, nicht den dunklen Rahmen selbst. So behutsam wie bei einem Schlafenden, der nicht erschrecken soll oder auffahren. Alles blieb still. Da war nur das schwache Knistern loser Späne unter ihrer Hand. Und ihr eigener Herzschlag.
    „Alles in Ordnung, gnä’ Frau?“ Lieschen ging mit schepperndem Tablett hinter ihr vorbei, auf die Kellerküchentür unter der Treppe zu.
    „Ja“, sagte Blanka fest.
    Es rumste, als das Tablett gegen den Türbogen stieß. Lieschen schimpfte leise. Die Kellertür knarrte, Stimmen drangen für einen Moment von unten herauf. Lieschen polterte auf der Treppe herum, zog die Kellertür quietschend hinter sich zu.
    Stille.
    Blanka griff fester zu. Atmete ein, so tief, dass die Stahlstäbe in ihrem Korsett leise knackten.
    Das erste Brett schien ganz locker zu sitzen.

    Im Kinderzimmer klebte Blümchentapete an den schrägen Wänden, und das Licht fiel weich durch halboffene Tüllgardinen vor dem einzigen, kleinen Fenster. Der Blick reichte weit hinaus in den Park, bis zur Prinzessin. Wenn man sich direkt ans Fenster stellte und weit nach rechts schaute, konnte man auch die Hügelkuppe sehen und die Glashütte. Ein beruhigender Anblick für ein Kind, fand Sophie: Natur und Technik, getrennt und doch verbunden. Sie schob die Gardinen noch etwas weiter auseinander.
    Der Kachelofen in der Ecke bollerte, die Luft war warm und trocken und roch ganz schwach nach dem Lavendel im Kleiderschrank. Zwei Puppen

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