Winterkind
mit ihm zu besprechen. Und sag Karl, er soll das Ding schon vorsichtig auspacken und für den Transport morgen in ein dickes Tuch einhüllen. Es wäre ja sinnlos, all die Bretter mit nach oben zu schleppen. Nicht wahr?“
Das Ding? Die Worte hallten in Blanka nach, als Lieschen schon hinausgepoltert war und die Tür des Arbeitszimmers hinten im Haus zuklappte. War das der Spiegel für sie alle? Ein lebloses, störendes, unhandliches Ding , das irgendwie aus dem Weg geschafft werden musste? Dabei sah man doch selbst jetzt schon, wie gleichmäßig das Glas gearbeitet war, wie fein geschnitzt die Ranken und Blüten des Rahmens. Die blassen Edelsteine, sorgfältig in das Holz eingelegt, schimmerten aus dem hässlichen Kasten heraus, Schlagmetall glänzte unter den Spänen. Ein Ding? Für sie fühlte es sich nicht so an.
Sie machte einen Schritt auf den Spiegel zu, stockte mitten in der Bewegung. Nein, sie wagte es noch nicht. Wenn er oben stand, vielleicht, oben in ihrer eigenen Kammer …
Dummes Mädchen , wisperte irgendetwas in ihr, aber sie strich sich so energisch den feinen Holzstaub von den Ärmeln, dass sie es nicht hören musste. Dann klingelte sie nach der Köchin, um mit ihr das Mittagessen zu besprechen.
Im Nachmittagslicht glitzerte draußen der Raureif. Sternstaub, dachte Sophie und schirmte die Augen mit der Hand ab. Wie viel heller der Tag doch wirkte, wenn er nicht durch Gardinen und Portieren gefiltert wurde! Die Wolken hingen immer noch tief über dem Herrenhaus und dem ganzen Hügel, aber das Licht hatte nichts mehr von fahler Mattigkeit. Die Luft war klar, kalt und frisch. Der Neuschnee, den die Wolken ankündigten, war nur eine ferne, fast unwirkliche Drohung. Sophie tastete nach dem Knoten der Hutbänder unter ihrem Kinn. Alles saß, wie es sollte.
Vom Herrenhaus aus ging es die gewundene Straße hinauf. Sie stieg nicht steil an, aber Sophie glitschte und rutschte auf dem harten Schnee. Die Glashütte mit ihrem unförmigen Turm leuchtete ihr ziegelrot entgegen. Je näher sie ihr kam, desto deutlicher hörte sie sie auch: Aus der großen Werkshalle und den anderen Gebäuden kam eine Art schwaches Dröhnen, ein tiefes, unterschwelliges Geräusch, das sich aus vielen verschiedenen, unklaren Lauten zusammensetzte und rasch stärker wurde. Sophie war noch nie bei der Hütte gewesen, es hatte keinen Grund dazu gegeben; sie wunderte sich jetzt darüber, dass sie nicht von sich aus ein wenig Neugier gezeigt hatte. Vielleicht hätte es sich nicht geschickt, aber sicher war sie sich nicht. Es gab viele Regeln, für alle möglichen Gelegenheiten und Anlässe; aber eben nicht für alle. Und zwischen den Anstandsgeboten war auch immer ein wenig Raum für behutsame Interpretation … Sie lächelte vor sich hin. Ja, es gab Schlupflöcher, wenn man wusste, wo man sie zu suchen hatte.
Das Dröhnen teilte sich jetzt in unterschiedliche Ebenen auf: ein tiefes Wühlen, das fast aus der Erde selbst zu kommen schien; und ein höheres, flacheres Geräusch darüber, wie eine Art stetiges Fauchen. Dieses zweite Geräusch musste es wohl sein, was Frau von Rapp gelegentlich im Herrenhaus zu hören meinte – wenn ihr Gesicht diesen abwesenden Ausdruck annahm. Es kam häufiger vor in der letzten Zeit. Sie war eine sehr empfindsame Frau. Zu empfindsam vielleicht, dachte Sophie manchmal, obwohl sie gut genug wusste, dass es ihr nicht zustand. Immerhin, die Gedanken konnte einem niemand verbieten, man musste nur wissen, wann man sie besser für sich behielt.
Der Turm warf seinen verzerrten Schatten über den Hügel. Das Hallendach daneben war nur ganz schwach überzuckert vom Schnee der letzten Tage. Das meiste musste geschmolzen sein, von der Hitze, die im Innern herrschte. Eine merkwürdige Vorstellung, mitten im Winter. Ob die Arbeiter das noch so empfanden? Oder waren sie so sehr gewöhnt an den Wechsel zwischen heiß und kalt, dass sie ihn gar nicht mehr bemerkten? Sophie hatte oft gehört, dass den arbeitenden Schichten das feinere Gefühl fehlte, die zarten Nuancen, die Frauen wie Blanka von Rapp in solcher Vielfalt empfanden. Abstumpfung, sagten die einen, erbliche Veranlagung die anderen. Aber Sophie hatte in der Warteschule zu oft gesehen, wie verhärmte Frauen mit ungepflegten Haaren sich über ihre Kinder beugten, einen Ausdruck solcher Zärtlichkeit in den rauen Zügen, dass sie weder das eine noch das andere ganz glauben konnte. Vielleicht erkannte man nur das Vertraute nicht so leicht, wenn es sich in
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