Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Mer
Vom Netzwerk:
als es unten polterte, und Blanka zuckte zusammen. Sie musste sich anstrengen, nicht aufzuspringen. Sophie hatte ihr nicht Bescheid gegeben, als die Männer gekommen waren. Und Blanka wusste, es war besser so. Heute hatte es schon genug Aufregung um den Spiegel gegeben. Aber leicht fiel es ihr nicht.
    Sie seufzte und setzte sich wieder ganz aufrecht auf dem Stuhl, den Lieschen ihr ans Bett gezogen hatte. Er war etwas zu klein, ein Kinderstuhl eben, die Turnüre unter ihrem Rock drückte unangenehm gegen die Lehne und zwang sie, noch weiter vorn als sonst auf der Kante zu sitzen. Sich anzulehnen, wenn sie es sich denn ausnahmsweise einmal hätte erlauben wollen, war ganz unmöglich. Es war fast ein Anflug von Neid, mit dem sie den Blick über die bequem ausgestreckte kleine Gestalt unter dem Federbett schweifen ließ. Wie viel leichter es doch manchmal war, ein Kind zu sein …
    Sie betrachtete ihre Hände in ihrem Schoß, den glänzend weißen, zarten Baumwollstoff der Handschuhe mit den aufgestickten Rosenknospen am Saum. So sauber, so makellos. Johanna unten vor dem Spiegel zu sehen, hatte sie mehr aufgeregt, als sie selbst verstand. Hatte Dinge in ihr in Bewegung gesetzt, Dinge, die sonst still dalagen und schliefen. Dunkle, wolkige Gebilde. Wann hatte sie diese vagen Erinnerungen wieder in sich aufsteigen gespürt? Als sie ihr den Spiegel ins Haus brachten … Und jetzt regten sie sich, diese Gebilde, und sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte.
    Sie schaute zum Fenster hinüber, um sich abzulenken, auf die niedrigen, schmutzig weißen Wolken. Den Turm der Hütte konnte sie vom Bett aus nicht sehen, aber sie wusste, dass er da war, fühlte seine Gegenwart auf dem Hügel. Ihr ganzes Leben, so kam es ihr in diesem Augenblick vor, hatte sie unter Türmen verbracht, roten und grauen, massigen und schlanken; hatte ihre strikten Schatten wie eine ständige Ermahnung auf sich gefühlt und gleichzeitig die Geborgenheit, die sie geben konnten, wenn man sich ihnen anvertraute. Es war der alte Turm der Glashütte gewesen, den sie als Erstes gesehen hatte, damals, als nervöse junge Ehefrau auf dem Weg ins Haus ihres Mannes; er hatte sie willkommen geheißen, neu und vertraut zugleich. Johann hatte es glücklich gemacht, dass sie sich sofort in den Turm verliebte. Trotz aller Erinnerungen – oder gerade ihretwegen? Er hatte ihn jedenfalls nicht abreißen lassen, wie er es eigentlich vorgehabt hatte.
    Johann … Ihre Gedanken schweiften ab. Wie sonderbar es doch war, dass er heute Morgen wieder abgereist war. So plötzlich und so – beinahe heimlich. Sie war sich nicht einmal sicher, ob er nicht, wenn sie sich nicht zufällig auf der Treppe begegnet wären … Aber nein, so durfte sie nicht denken. Er war ein anständiger Mann, der sie immer mit allem Respekt behandelt hatte. Er würde sich nicht einfach hinter ihrem Rücken aus dem Haus schleichen. Sie zwang sich, sich wieder auf das Fenster zu konzentrieren, den Turm, der nachdenklich zu ihr hereinschaute.
    Damals … Es war lange her. Sie hatte sich an den Turm gewöhnt, nahm ihn meist nur noch wahr wie die Bäume im Park, ein Teil der Landschaft. In letzter Zeit war er ihr sogar ein wenig unheimlich geworden, auch wenn sie vor sich selbst darüber spottete. Irgendwie hatte die auffällige Kegelform sich für sie mit Johanns Sorgenfalten verbunden, mit dem Geflüster der Herren hinter verschlossenen Türen, vor ein paar Jahren, als die Börsen zusammenbrachen; mit den immer wieder aufflammenden Gerüchten von Arbeiter-unruhen und Streiks und Johanns gelegentlichen Zornesausbrüchen, wenn er von dort oben kam. Und das leise, unterschwellige Fauchen, das sie immer zu hören meinte, das von der Glashütte herunterzuwehen schien … Sie wusste selbst, dass es nicht vom Turm herrührte; er war seit Jahren nicht mehr in Betrieb. Wahrscheinlich bildete sie es sich sowieso nur ein. Aber gerade jetzt, so dicht unter dem Dach, hörte sie es überdeutlich.
    Johanna schien es nicht zu stören. Sie murmelte immer noch dann und wann, seufzte und machte kleine, schmatzende Geräusche wie als Säugling. Heimelig und friedlich klang es, und doch – heute kratzten die Geräusche an Blankas Nerven. War Johanna nicht eigentlich schon zu alt, um so zu schlafen, so hingegeben, beinahe hemmungslos, wie ein viel kleineres Kind? Blanka wusste, sie selbst lag niemals so da und machte eigenartige Geräusche. Wenn sie aufwachte in der Nacht, waren ihre Hände über der Brust verschränkt,

Weitere Kostenlose Bücher