Winterkind
noch fest auf dem Geländer. „ Sie den Spiegel beschädigt? Oh nein, Fräulein Sophie.“
Am Fuß der Treppe blieb sie stehen, löste den verkrampften Griff endlich und hielt die Hand Johanna entgegen. Ihre Tochter zögerte. Erst, als der Anflug eines Lächelns über Frau von Rapps Miene zog, ließ sie Sophies Rock los, lief zu ihrer Mutter und fing noch im Laufen an zu weinen.
„Ich wollte wirklich nichts Schlimmes tun!“
Frau von Rapp streichelte ihr den Hinterkopf, als Johanna das Gesicht im roten Samt vergrub.
„Ich weiß, mein Schatz, ich weiß. Kein kleines Mädchen auf der Welt“, sie sah Sophie an, „kann diesem Spiegel etwas anhaben. Und wenn es sich noch so sehr bemüht … Aber er“, sie stockte, suchte nach Worten. „Er ist sehr alt und sehr schwer, und ich weiß nicht, wie sicher er noch in seinem Rahmen sitzt. Ich möchte nicht, dass du verletzt wirst, Johanna, wenn er sich vielleicht lösen sollte.“ Sie atmete tief durch. Allmählich kehrte die Farbe in ihre Wangen zurück. „Komm, ich bringe dich jetzt wieder nach oben. Fräulein Sophie leistet dir dann beim Frühstück Gesellschaft, ja? Du solltest im Bett bleiben, bis du ganz sicher wieder gesund bist.“
Sie nickte Sophie zu. Widerspruchslos ließ Johanna sich die Treppe hinaufführen. Die Bettdecke blieb vor dem verhüllten Spiegel liegen, ein Schneehaufen mitten auf den gemusterten Fliesen – weich und sanft, wie Schnee immer aussah und wie Schnee niemals war. Sophie hob die Decke auf.
Konnte das wirklich geschehen sein? Noch nie hatte sie Blanka von Rapp schreien hören. Und dieses eigenartige Stocken eben …
Mit gerunzelter Stirn machte Sophie sich daran, der Hausherrin und ihrer Tochter die Decke hinterherzutragen.
Blanka hielt Johanna fest an der Hand, zog sie hinter sich die Treppe hinauf, ohne einen Blick zurück in die Halle zu werfen. Ihr Herz schlug schnell und hart gegen ihr Korsett. Als sich im ersten Stock knarrend eine Tür öffnete, zuckte sie zusammen vor dem unerwarteten Geräusch.
„Nanu, meine Liebe?“, fragte Johann, „Frätzchen, was bist du denn hier unterwegs?“
Irritiert blieb Blanka stehen. Er war vollständig angekleidet wie sie. Mehr noch, er trug seinen Reisemantel. Der Pelzkragen roch noch feucht von der letzten Fahrt. Hinter ihm schob sich Anton in den Flur. Ebenfalls im Mantel.
Blankas Atem ging immer noch heftig, sie hatte Schwierigkeiten, ihre Stimme zu kontrollieren. So ruhig wie möglich sagte sie:
„Sie – Sie reisen wieder ab?“
Er setzte den Hut auf, lächelte vage, verlegen.
„Ja, nun ja, so ist es wohl.“
„Oh fein“, rief Johanna und ließ Blankas Rock los. „Ich komme mit!“ Blanka erwischte ihre Hand nur noch knapp, bevor sie zu den Männern stürmen konnte.
„Du bleibst brav hier“, sagte sie, strenger wohl, als sie es gewollt hatte, denn Johann runzelte verwundert die Stirn und Johanna schmiegte sich sofort wieder folgsam gegen ihren Rock.
„ Tiens! “, sagte Johann. „Natürlich, das geht nicht, Fratz, das musst du einsehen.“
Sophie kam die Treppe hinauf, das Federbett über dem Arm. Sie knickste überrascht.
„Gnädiger Herr …?“
„Guten Morgen, Fräulein Sophie.“ Verwirrt musterte Johann einen Moment lang das Federbett. Dann räusperte er sich.
„Ja, wie gesagt … Ich fahre. In die Stadt, auf ein paar Tage. Ich habe mich eine ganze Weile dort nicht mehr sehen lassen, und ich denke … Nun. Die Kutsche ist zwar noch nicht repariert, aber der gute Karl hat das Coupé flottgemacht. Nicht ganz das Richtige für eine Winterreise, aber … Nun, nun.“
Er strich sich die Mantelaufschläge glatt, in denen sich keine Falte zeigte.
„Oh“, sagte Blanka schwach.
„Ich bin spätestens zum Zahltag wieder zurück, meine Liebe. Spätestens. Und auch Johannas wegen, was, Fratz?“ Er gab sich munter, schmunzelte schief für seine Tochter, bis sie das Lächeln getröstet erwiderte.
„Oh“, sagte Blanka wieder. „Oh, natürlich. Natürlich, ich verstehe. Hoffentlich – hoffentlich haben Sie eine gute Reise.“
Er trat auf sie zu, gab ihr den Handkuss, ohne sie mit den Lippen zu berühren – ganz, wie es sich gehörte. Nur seine Barthaare kitzelten leise über den schmalen Spalt zwischen Handschuh und Ärmelsaum, eine so intime Berührung, dass sie spürte, wie ihr die Schamröte ins Gesicht stieg.
„Also dann“, brachte sie heraus, „ au revoir , und achten Sie gut auf sich.“
„Sie auch, mein liebes Kind“, murmelte er, „Sie
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