Winterkind
Zorn –, hielt sie mit eisernen Klammern in sich gefangen, und je mehr es in ihr zuckte und aufbegehren wollte, desto mehr presste sie es zusammen. So lange, bis sich nichts mehr rührte.
Zeit ging dahin. Im Wald rief der Kuckuck, der Frühsommer kam; und unten, in den Mädchenkammern, entstand ein Tuscheln, ein beharrliches Wispern, das sich um Elsbeth drehte, immer um sie. Es trieb durch alle Gänge. Oben in ihrem Turmzimmer hörte die Frau es wohl. Und sie wusste, was es zu bedeuten hatte.
Das junge Mädchen fing an, weite Kleider zu tragen. Es versteckte sich, wenn sie nach ihm schickte. Seine Furcht war im ganzen Schloss zu spüren, bis hoch in den Turm, wo die Frau vor dem Spiegel stand, sich das Gesicht mit Pasten bestrich, schwieg und wartete. Sie wartete lange; sie wartete geduldig.
Das Laub duftete, und in den Nächten schlugen die Nachtigallen. Ein Gartenball folgte dem anderen. Sie wartete; sie schwieg. Die Jagdsaison begann, fröhliche Gesellschaften füllten das Schloss. Nebel stiegen aus dem Wald, und der Herbst umhüllte alle Mauern mit seinem kühlen, feuchten Mantel. Aber drinnen, unten in den Mädchenkammern, ließ sich längst schon nichts mehr verbergen. Die Mädchen tauschten untereinander, übernahmen Elsbeths Dienste, wenn es darum ging, schwere Milchkannen zu heben oder Kartoffeln zu wuchten. Und immer noch wartete die Frau und sagte kein Wort, in all ihren Plaudereien mit Gästen und Ehemann, in all ihren fröhlichen Scherzen. Kein Wort.
So lange, bis alle sich ganz sicher fühlten.
Dann kamen die ersten Wintertage, und ihr Mann fuhr wieder fort. Wie immer hatte er ihre Hand geküsst, bevor er ging, dankbar, und sie beide hatten gewusst, wofür er ihr dieses Mal dankte. Sie ließ ihn ziehen und blickte seiner Kutsche vom Turmzimmer aus noch lange nach. Als sie sie nicht mehr sehen konnte, schickte sie ihr Kind fort, das vor dem Spiegel mit seinen Puppen spielte. Dann ließ sie nach Elsbeth rufen; und dann sprach sie zu ihr.
Nur ein einziges Wort.
In dieser Nacht öffnete sie ein Fenster des Turmzimmers weit. Wenig später schrien die Krähen unten im Wald, grell wie Seelen im Fegefeuer. Aber in ihren Ohren klang es seltsam süß.
Vier
In Johannas Kopf schlugen die schwarzen Flügel. Sie hetzten sie durch Gänge aus grauem Stein, trieben sie vor sich her, durch einen lichtlosen Irrgarten, weiter, immer weiter. Sie konnte sie nicht abschütteln, so schnell sie auch lief. Ihre Kehle brannte wie Feuer, sie bekam keine Luft mehr, aber sie wagte es nicht anzuhalten. Die Flügel würden sie erreichen, würden sie einhüllen und dann, in ihrem Schatten, etwas Furchtbares mit ihr tun. Sie wusste es, sie kannte die Flügel. Sie jagten sie nicht zum ersten Mal.
Im Boden schienen ihre Füße steckenzubleiben wie in weichem Teer. Die Luft war so schwer und dick wie Herbstnebel. Immer, wenn sie glaubte, einen Ausweg gefunden zu haben, verschoben sich knirschend Steine und verstellten ihr den Weg nach draußen. Die Flügel peitschten sie voran. Sie wollten, dass sie zu einem Ort lief, einem bestimmten Ort im Irrgarten aus Stein. Einem Ort, den sie noch mehr fürchtete als die Flügel. Sie wollte nicht dorthin, nein, nur nicht dorthin!
Hinter Bögen, zwischen Pfeilern tauchte er manchmal auf, und dann rauschten die Flügel triumphierend. In letzter Minute fand sie dann einen Winkel, einen neuen schmalen Gang, in den sie entwischen konnte. Nicht dorthin , nur nicht dorthin ! Sie schluchzte, während sie rannte, bettelte mit erstickter Stimme. „Ich wollte es doch nicht, ich wollte nichts Böses tun …!“ Aber die Flügel scherten sich nicht um ihr Weinen. Die Flügel wollten, dass sie bestraft wurde. Sie würden sie dorthin treiben, wo sie schon einmal gewesen war, unerlaubt, heimlich; niemandem hatte sie davon erzählt, nicht einmal Sophie. Sophie, ach, Sophie! Wo war sie nur, warum half sie ihr nicht? Johanna rannte und ihr Körper glühte. Sie wusste, wer dort auf sie wartete.
Die Hexe.
Die Hexe in der Kapelle.
Die Hexe im Spiegel. In dem seltsam grauen Licht.
Die Hexe unter dem schwarzen Tuch – oder waren es auch Flügel gewesen? Nur nicht anrühren, nur nicht daruntersehen! Nicht noch einmal! Denn unter dem Tuch, unter dem Schleier – das Gesicht! Das entsetzliche Gesicht!
„Nein“ , schluchzte Johanna, während sie rannte, „nein, es tut mir leid, ich wollte es nicht! Ich durfte nicht allein in die Kapelle gehen, es tut mir leid, es tut mir so leid!“
Aber sie hörte die
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