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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Mer
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zog eines heraus.
    „Ja, das ist mir klar“, sagte Frau von Rapp. „Wenn er denn schreiben kann.“
    Sophie musste lachen. „Aber gnädige Frau, die Arbeiter sind heutzutage doch nicht mehr völlig ungebildet! Es gibt die Volksschulen, und Willem ist außerdem ein Facharbeiter. Dafür muss man lange lernen und sicher lesen und schreiben und sehr gut rechnen können.“
    „So?“ Es klang kühl. Sophie biss sich auf die Zunge. War die Zeit der Vertrautheit so schnell wieder vorbei? Aber als sie Frau von Rapp ansah, war ihr Gesichtsausdruck nur abwesend, nicht kalt.
    „Ich verstehe nicht viel von den einfachen Menschen“, sagte sie schlicht. „Ich hatte nie die Gelegenheit, sie kennenzulernen. Es – es gehörte sich auch nicht für ein Mädchen von Stand. Wenn man es trotzdem tat – wenn man sich zum Beispiel aus dem Schloss stahl und mit Arbeiterkindern spielte – im Wald, wo einen niemand sehen konnte … im Wald …“ Ihre Stimme wurde immer leiser, verschwand in immer größere Ferne. Zum Schluss blieb nur ein Wispern übrig, das sich im Raum verlor.
    Im Wald?, dachte Sophie verwundert. Blanka von Rapp fürchtete den Wald. Und sie hatte seit Jahren keinen Fuß mehr vor die Tür gesetzt …
    Die Hausherrin schüttelte den Kopf. „Lassen Sie nur. Nehmen Sie das Glas, wenn Sie es wirklich allein tragen können, und bringen Sie es dem Mann. Ich schaffe hier schnell Ordnung.“

    Neuschnee, dachte Sophie, zum zweiten Mal, während sie zur Haustür ging, das schwere Glas fest mit beiden Armen umschlungen. Hübscher, zarter, tödlicher Neuschnee … Es schauderte sie unwillkürlich.
    Das Gefühl musste ihr noch im Gesicht gestanden haben, als sie aus der Haustür trat. Willem nahm ihr das Glas schnell ab, ganz ohne Mühe, wie es schien; unterschrieb geübt die Quittung und sagte dann erstaunlich sanft zu ihr:
    „Es is wohl bei Ihnen hier alles auch nicht so leicht, wie? Vor allem zurzeit. Der Herr nicht da, und dann noch ein Krankheitsfall …“
    Sophie hatte sich rasch zurückziehen wollen, kein neues ungehöriges Zwinkern herausfordern. Die freundliche Art, wie er sie jetzt ansah, verwirrte sie und nahm ihr den Wind aus den Segeln. Zögernd antwortete sie:
    „Es ist – es ist nur, weil es ausgerechnet Fräulein Johanna betrifft. Sie ist noch so jung. Und ein so fröhliches, lebendiges Kind …“
    Er nickte. „Ich weiß, wie das is. Ich hatte eine jüngere Schwester. Sie bekam Diphterie, wissen Sie, Frollein. Das war nicht schön mitanzusehen.“
    Er neigte den Kopf leicht zur Seite und nach unten, wie ein trauernder Engel auf einem Grabmal.
    Impulsiv legte Sophie ihm eine Hand auf den Arm.
    „Wie furchtbar!“
    Als ihr klar wurde, was sie tat, wollte sie sie sofort zurückziehen; aber er sah sie dankbar an aus seinen großen blauen Augen und sagte:
    „Das is lieb von Ihnen. Kommt nicht oft vor, dass die feinen Leute sich vorstellen können, wie’s unsereinem zumute is. Sie sind was Besonderes, Frollein. Das habe ich schon geglaubt, als Sie zu uns nach drüben gekommen sind.“
    Seine Finger legten sich über ihre. Sie sah es nicht, weil sein Blick ihren umfangen hielt; aber sie fühlte es. Seine Hand war warm, trotz der Kälte, und hart und schwielig. Und so viel größer als ihre … Ja, sie fühlte es. Aber sie konnte es nicht glauben.
    „Sie werden sich schon gut um die Kleine kümmern“, sagte er, wieder in diesem leisen, sanften Ton, als wären seine Worte ganz allein für sie bestimmt, für niemanden sonst. „Und um die Gnädige, da bin ich sicher. Und der Herr is bestimmt bald zurück. Meinen Sie nicht? Frollein?“
    „Ja“, murmelte Sophie, als sie ihre Sprache wiedergefunden hatte. „Ja, bestimmt.“
    Sie wartete auf die Empörung, von der sie wusste, dass sie sie empfinden sollte. Der Zorn über so viel plumpe, unangemessene Vertraulichkeit hätte ihr genug Kraft gegeben, die Hand zurückzureißen, ihm verachtungsvoll den Rücken zuzukehren. Doch stattdessen spürte sie nur – Wärme. Sie kam von seiner Haut, seiner Berührung, die ganz weich war und friedlich. Und irgendwie brachte Sophie es nicht mehr fertig, sich hochmütig abzuwenden …
    Er lächelte sie an, nicht das breite, strahlende Lächeln, das er ihr sonst gezeigt hatte; es war klein, beinahe schüchtern, sehr intim und vielleicht ein wenig – wehmütig?
    „Ich muss gehen“, sagte er leise, bedauernd.
    „Ja“, murmelte sie wieder.
    Er löste ihre Hand sanft von seinem Arm und hielt sie, einen Augenblick lang nur.

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