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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Mer
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sich zusammennehmen.
    Haltung, Blanka.
    Sie richtete sich auf und sah sich im Zimmer um. Oft betrat sie es nicht. Der Raum stand voller schwerer, dunkler Möbel und roch immer ein wenig nach Pfeifenrauch. Ob Johann es ihr übel nehmen würde, dass sie hier herumstöberte? Aber er hatte ja nicht wissen können, dass das, was auch immer da drüben in der Hütte vorging, so viel schneller passierte, als es vorgesehen war. So lange der Hausherr abwesend war, musste sie ihn als seine Ehefrau vertreten. Es war ihre Pflicht, nicht wahr? Auch wenn sie weiß Gott nichts davon verstand.
    Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, sich zu erinnern.
    „Er ging eigentlich nicht zum Schreibtisch, wenn er an den Tresor musste“, sagte sie laut. „Wegen des Schmucks, zum Beispiel, oder der Aktienpapiere. Ich glaube eigentlich, dass er – hier drüben vielleicht …“
    Ihr Blick schweifte über den Lehnsessel, das kleine Rauchtischchen daneben. Eine Büste stand dort, nicht höher als eine ausgestreckte Männerhand; ein Frauenkopf, zierlich in Alabaster modelliert. Verlegenheit stieg in ihr auf. Er hatte sie gleich nach ihrer Hochzeit anfertigen lassen … Oben, auf dem welligen Scheitel, war der Stein ganz blank, wie von vielen Berührungen.
    Sie ging schnell hinüber, nahm die Büste in die Hand; vermied es, sich selbst in das reglose Antlitz zu sehen. Sie war ganz leicht, und etwas klirrte leise, als sie sie bewegte. An der Unterseite war Filz auf einer dünnen Holzplatte befestigt. Sie zog versuchsweise daran, drehte dann ein wenig. Die Platte löste sich fast geräuschlos. Der Schlüssel fiel aus der hohlen Büste direkt in ihre offene Hand.
    Sie seufzte erleichtert und drehte sich um.
    „Soll ich draußen warten?“, fragte Sophie.
    „Nein, bitte bleiben Sie.“ Blanka drehte den Schlüssel zwischen den Fingern. „Ich bin so furchtbar ungeschickt in diesen technischen Dingen. Männer haben eben doch einen ganz anderen Verstand als wir. Aber zu zweit werden wir es wohl hinbekommen, meinen Sie nicht?“
    „Ganz sicher.“ Sophie lächelte. Es lag etwas Aufmunterndes darin, unangemessen, aber wohltuend. Woher nahm Sophie nur ihre Stärke? Sie musste ein schweres Leben haben, auf sich allein gestellt, immer unterwegs, von Familie zu Familie. Weder Gast noch Angehöriger, weder in einem Rang mit den Herrschaften noch auf einer Stufe mit den Dienstboten. Auf ewig zwischen allen Stühlen. Und jeden Tag umgeben vom Familienglück, während man selbst allein blieb. Ein schweres, einsames Leben. Und doch so voller Tatendrang. Gegen sie, dachte Blanka, plötzlich ganz mutlos, bin ich nur ein fallendes Blatt, das der Wind herumweht. Ohne Kraft, ohne Ziel. Ohne Leben.
    Haltung , Blanka!
    Sie straffte sich, reckte das Kinn nach oben. Die Korsettstäbe knackten leise.
    „Also dann“, sagte sie, so forsch, wie sie konnte. „So schwer kann es ja nicht sein.“

    Ganz leicht, stellte Sophie bald fest, war es aber auch nicht. Das Bild war mit einem kleinen Mechanismus an der Wand befestigt, dessen Auslöser sie zuerst nicht fanden. Als es endlich zur Seite klappte, hatte der schwarze Stahltresor dahinter drei Schlüssellöcher statt einem, versetzt angeordnet, wie Augen und ein zusammengekniffener Mund. Sie mussten in einer bestimmten Reihenfolge geöffnet werden, aber darauf kamen die beiden Frauen nicht gleich. Es gab eine Menge kleine, flache, runde Erhebungen, wie Knöpfe. Sie drückte eine Weile erfolglos an ihnen herum, während Blanka von Rapp mit dem Schlüssel hantierte. Als ihnen fast gleichzeitig aufging, dass es sich nur um Nieten handelte, mussten sie beide lachen. Es tat wohl, nach der langen, entsetzlichen Nacht, und es schien den Bann zu brechen. Beim nächsten Versuch erwischte die Hausherrin auf Anhieb das richtige erste Schlüsselloch, und danach war es nur noch eine Frage des Probierens, bis das Handrad in der Mitte sich endlich drehen ließ und die Tresortür knirschend aufschwang. Sophie wollte bescheiden beiseitetreten, aber Blanka von Rapp schüttelte den Kopf.
    „Wir haben das Biest zusammen bezwungen, dann können wir auch zusammen hineinsehen.“
    Sie steckten die Köpfe zusammen, wie kleine, neugierige Mädchen. Ihre Wangen waren sich so nahe, dass sie sich beinahe berührten. Sophie roch den schwachen Lavendelhauch, der immer von ihrer Herrin ausging. Er hatte etwas Tröstliches, Beruhigendes.
    In den beiden Fächern des Tresors stapelten sich Metallkästen und Ordner voller Papiere, alles sehr

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