Winterkind
ordentlich und sachlich und sehr männlich. Sophie sah, wie Blanka zögerte, bevor sie einen der Kästen scheu mit der Fingerspitze anrührte.
„Was meinen Sie, wo wird man so etwas wohl aufbewahren?“
Sophie wandte sich ihr zu. Selbst aus allernächster Nähe war Frau von Rapps Haut so glatt wie Porzellan. So glatt und so weiß, dass man fast erschrak, wenn sich plötzlich Mimikfältchen darin bildeten und der blasse Mund anfing zu sprechen.
„In einem dieser Kästen?“, antwortete sie unsicher. Sie hatte vergessen, Willem danach zu fragen. Vielleicht war es ganz gut so. Sie hatte das dumpfe Gefühl, ohnehin keine besonders intelligente Figur gemacht zu haben, mit ihm vor der Tür. Und wenn sie nur an sein Zwinkern dachte …
Blanka von Rapp tippte auf einen der Kästen. „Diesen hier brauchen wir dann nicht anzusehen, den kenne ich. Hier, diese abgeschabte Stelle am Griff – das ist der Kasten mit meinem Schmuck.“
Sie schob ihn beiseite, schon ein wenig mutiger, und griff nach einem anderen.
„Offene Forderungen I-XII“, las sie laut vor von dem Schildchen, das auf dem Deckel klebte. Sie seufzte und stellte ihn auf dem Boden ab.
Es raschelte im Tresor. Ein Packen Ordner kam ins Rutschen. Sophie griff hastig zu und stieß die Ordner kräftig ins Fach zurück. Etwas klirrte leise, unsichtbar.
Sie sahen sich verwundert an.
„Was war das?“, fragte Sophie.
„Ich weiß nicht. Es klang wie Glas. Vielleicht besonders wertvolle Arbeitsmuster aus der Hütte? Oder einige von den alten Weinkelchen, die dort früher hergestellt wurden? Die Hütte war einmal Hoflieferant für die Hannoveraner, wissen Sie. Aber heute interessiert sich natürlich niemand mehr für so etwas.“
Sophie schwieg nachdenklich. Für sie hatte es nicht nach zarten Kelchen geklungen. Tiefer war das Geräusch gewesen, irgendwie voller. Wie wenn man mit dem Fingernagel gegen eines der riesigen Vorratsgläser in der Speisekammer schnippte. Vorratsgläser … Sie schlug sich gegen die Stirn.
„Lassen Sie uns die Ordner ganz herausziehen“, sagte sie. „Ich glaube, ich weiß, wo wir das Zeug finden. Denken Sie an eine Apotheke, gnädige Frau! Wie bewahren die Apotheker ihre Pulver und Mischungen auf?“
Sie griff zu, Blanka von Rapp half ihr verwirrt. Das Fach war tief. Aber hinter der ersten Reihe von Ordnern kam keine weitere zum Vorschein, wie es den Anschein gehabt hatte. Auch keine Metallkästen. In der Tiefe des Tresors schimmerte es schwach.
Sophie zog sich zurück.
„Greifen Sie hinein, gnädige Frau“, sagte sie. „Aber kräftig. Sie werden schwer sein, denke ich mir.“
Es waren zwei Gläser, die zum Vorschein kamen; große, bauchige, dickwandige Gläser mit wachsversiegeltem Stopfen und sorgfältig geschriebenen Etiketten.
„Arsenicum album“, las Sophie laut.
Beide Gläser waren bis zum Rand gefüllt mit einem weißen Pulver. Es wirkte eigenartig vertraut, wie sehr fein gemahlener Zucker – oder wie Neuschnee, wenn der Wind ihn aufwirbelte. Nichts Bedrohliches ging davon aus.
„Ein Fingerhut voll …“, murmelte Sophie.
„Bitte, helfen Sie mir.“ Blanka von Rapp hatte eines der Gläser weiter vorgezogen, bis zur Kante des Fachs. Jetzt kippte es, und Sophie griff hastig zu. Das Glas war so schwer, dass sie beide Hände brauchte, um es zu halten und behutsam auf dem Boden abzustellen.
„Liebe Güte“, sagte Blanka von Rapp, leicht außer Atem, und zog die eigenen Hände zurück, „Sie hatten recht mit dem Gewicht.“
Sophie schaute noch einmal auf das Etikett.
„Fünf Pfund, gnädige Frau. Die wiegen schon etwas. Obwohl die tüchtige Frau Herrman unten solche Gewichte wahrscheinlich mit dem kleinen Finger stemmt.“
Blanka von Rapp lächelte schwach. „Meinen Sie, eines genügt?“
„Das muss es wohl.“ Sophie nickte. „Willem hat gesagt, dass sie es bisher nur für einige Versuche verwenden. Außerdem kann ich mehr als eines nicht tragen.“
„Willem …?“ Blanka von Rapp ließ die hellen Augen sachte und sehr diskret beiseiteschweifen.
Sophie räusperte sich verlegen.
„Nun, er – der Arbeiter wird sich jedenfalls damit zufriedengeben müssen. Und er muss eine Quittung unterschreiben.“ Sie hatte einen schmalen Stoß Kärtchen entdeckt, mit einem Band zusammengehalten, der neben den Gläsern gesteckt hatte. Sie zog ihn heraus, froh darüber, von ihrem Fauxpas ablenken zu können. Vordrucke, mit Spalten für Namen, Datum und Material. Die unteren waren noch nicht beschriftet. Sie
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