Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Starokonjuschenny-Pereulok. Es war bitterkalt, doch es schneite noch nicht. Mervyn ging die vertrauten vier Stufen zum Erdgeschoss hinauf und klingelte. Niemand reagierte. Er klingelte wieder und wieder, mit wachsender Beklommenheit. Er hatte Mila von London aus angerufen, um ihr zu sagen, dass er in der Nacht ankommen würde. Sie war doch sicher nicht in einem verräterischen Doppelspiel des KGB weggebracht worden?
Mervyn beschloss, sich nicht gleich das Schlimmste auszumalen und Mila erst anzurufen. Er ließ Derek im Taxi zurück und ging zu einer Telefonzelle an der Ecke des Arbat. Wundersamerweise hatte er ein einzelnes Zweikopekenstück bei sich, die einzige Münze, die Moskauer Telefonzellen annehmen. Das Telefon funktionierte, schluckte seine Münze nicht einfach, Mila ging ans Telefon – eine weitere Reihe kleiner Wunder. Sie klang nicht näher als in London. Mervyn erinnert sich in seinen Memoiren an das Gespräch.
»Hallo, Mila?«
»Ja, ja? Merwusja? Bist du das?«
»Ist alles in Ordnung?«
»Ja?«
»Warum hast du dann nicht aufgemacht, als ich geklingelt habe?«
»Ich habe die Klingel nicht gehört. Ich hatte Angst, dass ich nicht schlafen kann, und hab eine Schlaftablette genommen.«
»O Gott! Eine Schlaftablette? Ausgerechnet in dieser Nacht? Egal, Derek und ich sind da, auf dem Arbat. Wir sind in zwei Minuten bei dir.«
Mila begrüßte sie an der Tür, »eine kleine Gestalt in einem farbenfrohen russischen Morgenmantel, verschlafen, aber mit erwartungsvollem Ausdruck«. Sie umarmten sich »herzlich«, schrieb mein Vater später und erinnerte sich daran, dass er »keine große romantische Gefühlswallung« verspürt hatte, »nur eine tiefe Befriedigung darüber, dass wir endlich zusammen waren«.
In den Büchern der Kindheit meiner Mutter oder in einem Theaterstück ihres geliebten Racine oder Molière würde die Geschichte hier enden. Eine große Liebe wird vereitelt, die Liebenden setzen sich gegen die Mächte des Bösen zur Wehr und triumphieren schließlich über alle Widrigkeiten. Im letzten Akt sind die Seelenverwandten wieder vereint. Die Schlaftablette wäre eine tragikomische Ausschmückung, ehe sich die beiden Liebenden Hand in Hand dem Publikum zuwenden und sich vor dem letzten Vorhang verbeugen. Hatte meine Mutter unbewusst das romantische Ende gar nicht gewollt? Hatte sie die Schlaftablette genommen, um nicht zu träumen in dieser letzten Nacht ihres alten Lebens, eines Lebens voller unschuldiger Leidenschaften, in dem sie für eine imaginäre Zukunft gelebt hatte? Nun war die Zukunft endlich gekommen und klingelte eindringlich an ihrer Tür. Es war Zeit, sie einem neuen Leben zu öffnen.
Am Morgen des 30. Oktober 1969 wachten Mervyn und Mila früh auf. Es war ihr zweiter Versuch zu heiraten, und er würde hoffentlich erfreulicher sein als der erste. Doch beim Frühstück beschlossen sie, aus einem Gefühl der Rebellion heraus oder vielleicht aus Resignation, dass es nach all dem Elend der vergangenen fünf Jahre nicht angemessen sei, sich herauszuputzen. Und so zog Mervyn anstelle seines Anzugs eine alte Tweedjacke und eine Hose an, die er sonst an der Uni trug. Mila legte das Kleid beiseite, das mein Vater aus England mitgebracht hatte, und zog einen einfachen Rock und eine Bluse an. Sie nahmen den goldenen Ring mit, den sie fünf Jahre zuvor gekauft hatten, und fanden ein Taxi, das sie zum Standesamt brachte. Sie hatten schon beschlossen, auf die übliche Champagnerfeier zu verzichten.
Die Hochzeitsgesellschaft traf sich um kurz vor zehn in der Gribojedowstraße – Mila, Mervyn, Milas Nichte Nadja, Nadjas Mann Juri, ein paar von Milas Freunden und Derek, Eleonora und Eleonoras Schwester. Lenina und Sascha kamen nicht – angesichts seiner Stellung im Justizministerium wäre es für Sascha zu riskant gewesen. Auch eine große Anzahl Reporter hatte sich versammelt, darunter Victor Louis. Im Hochzeitspalast verliefen alle Formalitäten reibungslos. Mila und Mervyn gaben ihre Pässe ab und gingen in eine große rot drapierte Halle mit einer weißen Lenin-Büste, wo eine beleibte Matrone die sowjetischen Ehegelübde verlas. Nach fünf Jahren und fünf Monaten unablässiger Bemühungen steckte Mervyn endlich Mila den Ring an den Finger.
»Und Sie sind unsere unattraktivste Braut!«, sagte die Frau, die die Pässe stempelte, mit der üblichen sowjetischen Schroffheit zu Mila. Mervyn war »froh, dass unsere Geste des Protestes bemerkt worden war«. Sie ließen sich auf dem
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