Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Flur fotografieren, ohne zu merken, dass sie die Tür zur Herrentoilette als Kulisse gewählt hatten.
Draußen wurden sie mit Fragen bestürmt, doch keiner der Beteiligten war in der Stimmung, etwas zu sagen. Mila und Mervyn waren all den Wirbel müde, Derek und Eleonora durften wegen ihres Exklusivvertrags mit dem Daily Express nichts sagen. Die Reporter folgten ihnen die Straße hinunter, als sie weggingen, und Juri holte gegen einen der Fotografen aus und schleuderte ihm ein »Bastard!« entgegen.
In seiner Geschichte in der Evening News am nächsten Abend schrieb Victor Louis Juris Bemerkung Mervyn zu, verärgert darüber, dass ihm das süße Happy End, das er nach so vielen Jahren treuer Berichterstattung verdient zu haben geglaubt hatte, verwehrt geblieben war.
Wieder vereint in Moskau. Mervyn und Mila kurz vor ihrem zweiten Hochzeitstag, Oktober 1969.
»Nach der Zeremonie, die überraschend kurz war – sie dauerte etwa fünf Minuten –, erkannten sie, dass es unklug gewesen war, das Taxi wegzuschicken, in dem sie gekommen waren«, schrieb Louis. »Während sie auf ein anderes warteten, wurden Dr. Matthews und seine Braut von einem Reporter fotografiert. Das Paar hatte alles daran gesetzt, die Presse zu meiden, und die beiden versuchten, ihre Gesichter hinter dem Brautstrauß aus weißen Chrysanthemen zu verstecken. Der Bräutigam versuchte, den Fotografen zu verscheuchen, indem er ihm ›Bastard‹ entgegenschleuderte.«
Am nächsten Tag waren sie auf ein schnelles Glas Wein und gute Wünsche in die britische Botschaft eingeladen. Sie fotografierten einander draußen vor der Botschaft auf der Sofiskaja Nabereschnaja, gegenüber dem Kreml. Auf den Fotos nieselt es, und der Himmel ist trübselig grau, doch mein Vater grinst wie ein kleiner Junge, wie er da mit meiner Mutter posiert, den Arm um ihre Schultern gelegt. Sie vergräbt die Hände tief in den Taschen ihres Regenmantels und lehnt den Kopf an seine Schulter.
Mervyn hatte gehofft, nach der Hochzeit noch ein paar Tage bleiben zu können, um in der Bibliothek zu arbeiten und Bücher zu kaufen, doch die OWIR informierte sie, sie hätten Russland so schnell wie möglich zu verlassen. Ein säuerlich dreinblickender Beamter nahm Mila ihren Inlandspass weg und händigte ihr einen Auslandsreisepass aus, ohne auch nur ein Wort zu der Frau zu sagen, die dem Mutterland den Rücken kehrte.
Der letzte Abend in Moskau war einer der traurigsten in Milas Leben. Dutzende von Milas Freunden kamen in ihr winziges Zimmer, um ihr Lebewohl zu sagen. Es war ein ständiges Kommen und Gehen, sie saßen auf niedrigen Hockern und hockten auf ihrem Bett. Waleri Golowister blieb die ganze Zeit, schweigend und traurig, und brütete über die Abreise seiner engsten Vertrauten, ihm weggenommen durch einen Briten, mit dem er einst Freundschaft geschlossen hatte. Die meisten von Milas Freunden waren überglücklich. Doch meine Mutter hatte Angst, und die Aussicht darauf, von ihren Dissidentenfreunden getrennt zu werden, machte sie so traurig, dass es wehtat. »Ich war wie eine alte Gefangene, die plötzlich freigelassen wird«, erzählte sie mir einmal. »Ich wollte meine Zelle nicht verlassen.« Der Andrang wurde zu groß, und Mervyn machte einen einsamen Spaziergang auf dem Arbat. Die Straße war still und verlassen.
Am 3. November verließen Derek und Eleonora Moskau in Richtung London, wo sie dank dem Daily Express eine triumphale Heimkehr erwartete. Mila und Mervyn flogen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, nach Wien. Als sie in die Ankunftshalle gingen, fühlte Mervyn, wie ihn Erleichterung überströmte. Endlich war es wirklich vorbei. In Wien verbrachten sie einen Nachmittag und Abend als Flitterwochen, ehe sie am nächsten Morgen nach London weiterreisten.
In Heathrow kam es zu einer kleinen Verzögerung, weil sie aus Wien und nicht aus Moskau kamen. Während die Beamten die Papiere durchsahen, standen Mila und Mervyn für kurze Zeit auf verschiedenen Seiten der Absperrung. Doch bald waren sie wieder zusammen, holten ihr Gepäck ab, schoben den Gepäckwagen mit den anderen Reisenden durch die Ankunftshalle.
Mila und Mervyn hatten über fünf Jahre lang für eine Zukunft gelebt, an die sie beide nur halb geglaubt hatten. Nun waren sie endlich wieder vereint, und eine neue Herausforderung erwartete sie – die unheroische Aufgabe, mit der Gegenwart zurechtzukommen und als echte menschliche Wesen miteinander zu leben.
Doch all das lag noch in der Zukunft. Mervyn und
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